„Ich verschreibe dir jetzt Selbstliebe im Garten. Gartenarbeit ist gelebte Selbstliebe“, sagte Karsten, während er Monika mitfühlend über den Rücken streichelte.

„Wie, du verschreibst mir Selbstliebe im Garten?“, fragte Monika und blickte ihn verständnislos an als hätte er ihr eine Frage aus dem Matheabitur gestellt.

Karsten lachte. „Das machen sie in England“, sagte er. Da gibt es sogenannte Social prescribing link workers. Das sind so eine Art Sozialarbeiter für die Gesundheit und die bringen Leute, die unter mentalem Stress leiden in Gruppen, die sich in der Natur bewegen, wandern gehen, Outdoorsport machen oder eben im Garten arbeiten.“

„Und weil ich noch nicht genug Arbeit habe, soll ich jetzt noch mehr im Garten arbeiten?“, fragte Monika. Es klang für sie, als hätte er ihr zu einem schweren Rucksack auf dem Rücken auch noch einen vorne umgehängt.

„Ja, genau“, sagte Karsten mit seinem typischen Lächeln, das Monika immer an einen buddhistischen Mönch denken ließ, ein Lächeln der tiefen Ruhe in sich. „Diese Arbeit wird sich für dich nicht wie Arbeit anfühlen. Sie wird dir guttun, glaub mir.“

Selbstliebe heißt sich nicht zu überfordern

„Wenn ich nur daran denke, den ganzen Garten umzugraben, schreit mein Rücken schon um Hilfe“, sagte Monika, griff sich mit beiden Händen in den Lendenbereich um machte ein Hohlkreuz.

„Gut, dass du es ansprichst. Wie bei allen unseren Übungen gilt: Überfordere dich nicht. Selbstliebe leben heißt auch zu erkennen, wann etwas zu viel ist und dann eine Pause zu machen. Als du zu Meditieren begonnen hast, habe ich dir den Tipp von Chade-Meng Tan gegeben: ‚Ein bewusster Atemzug am Tag reicht‘. Zumindest für den Anfang. Und so ist es auch mit deinem Garten. Such dir etwas, womit du beginnen möchtest, zum Beispiel eine Kräuterschnecke, Beerensträuchern oder ein kleines Gemüsebeet. Nach und nach kannst du mehr in deinem Garten tun. Aber für den Moment reicht das“, sagte Karsten.

Monika dachte an ihre Zweifel, als sie das erste Mal in Karstens Kurs gekommen war. Zufällig. Aber sein Konzept von gelebter Selbstliebe machte sie neugierig. Heute ist vieles, was früher für sie unvorstellbar war, zu meditieren, täglich Gymnastik zu machen, für ihre Bedürfnisse einzustehen, so normal wie Zähneputzen. Ein sanftes Lächeln zog sich über ihr Gesicht. In ihrem Kopf begannen schon die Ideen zu sprudeln als hätte Karsten eine Quelle angestochen.

„Ja, ich glaube, so könnte das gehen. Ich erzähl es dir nächste Woche“, sagte sie.

„Ich freue mich darauf zu hören, was du gemacht hast. Bis dann“, sagte Karsten.

„Bis dann“, verabschiedete sich Monika.

Vorfreude auf den Selbstliebe-Garten

Am nächsten Tag machte Monika pünktlich Feierabend, obwohl es noch ein paar Papiere abzuarbeiten gab. Die konnten warten. Sie hatte gelernt, dass sie sich um sich kümmern müsse, damit sie dann wieder für andere da sein konnte. Das galt auch für ihre Arbeit. Gelebte Selbstliebe half ihr, insgesamt produktiver zu sein – auch, wenn sie sich dafür manchmal Auszeiten gönnte.

Am Abend hatte sie sich noch ein paar Inspirationen zur Gartengestaltung geholt. Tatsächlich fand sie sogar einen Artikel über 12 Kräuter für die Selbstliebe, aber sie wollte das Thema nicht überstrapazieren. Außerdem wusste sie nicht, wie sie die ganzen Kräuter verwenden sollte. Ein kleiner Wasserlauf mit Sitzmöglichkeit nach japanischem Vorbild hätte ihr auch gefallen, war aber für den Anfang etwas zu aufwendig. Also hatte sie sich für Beerensträucher entschieden. Die hätten neben der angeblich beruhigend wirkenden Gartenarbeit den positiven Nebeneffekt, dass sie jedes Jahr gesunde und leckere Beeren bekommen würden. Außerdem würden die Sträucher den alten Maschendrahtzaun verdecken, der ihr noch nie gefallen hatte. So würde ihr jeder Blick in den Garten künftig mehr Freude bereiten.

Beste Pflanzzeit sei im Herbst, der ja bald beginnen würde, im Grunde könne man sie aber immer pflanzen, hatte sie gelesen. Mit zwei Johannisbeersträuchern, einem Himbeer- und einem Stachelbeerstrauch fuhr Monika vom Baumarkt nach Hause. Anstatt dass die Sträucher aus dem Kofferraum gerufen hätten: ‚Wir sind mehr Arbeit für dich. Du musst noch mehr tun‘, hörte sie ein warmes Flüstern: ‚Wir machen deinen Garten schöner.‘ Die verschriebene Selbstliebe im Garten wirkte schon, bevor sie sich überhaupt an die Arbeit machte.

Beeren aus dem Garten schmecken und sind gesund

Am Freitag machte Monika zum Abendessen einen Stachelbeer-Griesauflauf. Natürlich mit gekauften Stachelbeeren. Die Sträucher waren noch nicht gepflanzt, die erste Ernte würde es im nächsten Jahr geben. Monika empfand aber eine Vorfreude, wie sie sie zuletzt mit 13 gespürt hatte, als sie zur Firmung das neue Fahrrad geschenkt bekommen sollte. Diese Vorfreude und das tiefe Empfinden von Glück, das allein die Existenz der Sträucher in ihr auslöste, wollte sie mit der Familie teilen.

„Was ist das?“, fragte Florian, als sie den goldbraunen Auflauf aus dem Ofen holte.

„Stachelbeer-Griesauflauf“, sagte Monika.

„Interessant“, sagte Holger.

„Was sind Stachelbeeren?“, fragte Florian.

„Auch eine Beerenart. Wie Himbeeren und Blaubeeren“, sagte Monika, da sie nicht glaubte, dass Florian an einer tiefergehenden botanischen Erläuterung interessiert war. Die hätte sie auch nur von Wikipedia vorlesen können.

„Sind die sauer?“, fragte Sophie.

„An sich ja“, sagte Monika. „Aber natürlich ist der Auflauf mit so viel Zucker, dass das nicht mehr ins Gewicht fällt.“

„Zucker, Zucker, Zucker“, sang Florian wie Fans in einem Fußballstadion.

„Schön, dass man dich zumindest so dazu bringen kann, nicht bei jedem Essen auf Fleisch zu bestehen“, sagte Monika.

„Ach, jetzt wo du es sagst“, sagte Florian und tat so, als würde er aufstehen und zum Kühlschrank gehen.

„Probier!“, sagte Monika mit gespielt drohendem Gesichtsausdruck.

„Kann man essen“, sagte Florian. Von ihrem Sohn fasste sie das als Kompliment auf.

„Mir schmeckts richtig gut, Mami“, sagte Sophie.

„Mir auch“, sagte Holger.

Monika probierte selbst. Da die Stachelbeeren beim Backen nach unten gesunken waren, schmeckte sie als erstes, den säuerlichen Geschmack der Stachelbeeren, gefolgt von Süße und leichten Zitrusaromen und der Vanille im Gries. Das zweite Glücksgefühl, das ihr der Selbstliebe-Garten bescherte, bevor sie überhaupt einen Schritt in diesen gemacht hatte.

Gemeinsam Selbstliebe leben beim Pflanzen im Garten

Das Gras war noch feucht von der Nacht, die kühle Morgenluft roch nach der Lebendigkeit des neuen Tages. Ein paar Schleierwolken zogen über den schüchtern blauen Himmel. Beherzt trat Monika auf das Schaufelblatt, bog den Stil nach hinten und hob die erste Schaufel voll Erde in den Schubkarren. Schnell folgten weitere und bald war ein Loch, in das der Wurzelstock des ersten Himbeerstrauchs gut hineinpasste, ausgehoben. Holger half ihr, den Stock einzusetzen, hielt ihn vorsichtig oben fest, während Monika den Hohlraum mit Erde füllte und sie ringsum vorsichtig festdrückte. Gleichermaßen gingen sie bei den drei weiteren Sträuchern vor. Zufrieden traten sie einen Schritt zurück und begutachteten ihr Werk. Monika war zufrieden. Sie legte einen Arm um Holgers Hüfte, ging leicht auf die Zehenspitze, gab ihm einen Kuss auf die Wange und sagte: „Danke.“

„Ich hab nicht viel gemacht“, sagte Holger.

„Du hältst mich aus, auch wenn ich verrückte Dinge wie Meditationskurse mache, mich beim Wandern verlaufe oder ich eben einen Selbstliebe-Garten will“, sagte Monika.

Die Sträucher sind der Schritt auf dem Weg zum Selbstliebe-Garten

„Du hältst mich aus, wenn ich stundenlang im Keller irgendwelchen Metallfreunden mehr Aufmerksamkeit schenke als meiner Familie.

„Ich liebe dich“, sagte Monika.

„Ich dich auch“, sagte Holger.

„Und, hast du mein Rezept eingelöst?“, fragte Karsten als Monika am nächsten Montag den Meditationsraum betrat.

Unwillkürlich begann Monika zu lächeln. Sie nickte. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut der Selbstliebe-Garten tut. Dabei habe ich noch gar nicht viel getan.“

Der Selbstliebe-Garten wirkt

„Aber du hast was getan? Ich bin gespannt, erzähl“, sagte Karsten.

„Ich habe nur ein paar Beerensträucher gepflanzt. Mehr nicht. Aber schon fühle ich mich wohler, glücklicher und zufriedener in meinem Garten. Und auch das Pflanzen selbst hat sich nicht angefühlt wie zusätzliche Arbeit, sondern hat richtig Spaß gemacht, wie ein Ausflug mit der Familie oder, wie Meditation. Besonders schön war es, dass Holger mitgemacht hat. Und das ohne, dass ich ihn fragen musste.“

Karsten lachte. „Dann ist der Selbstliebe-Garten ja gut für euch beide. Das ist ja phantastisch. Gartenarbeit ist einfach toll. Sie stimuliert alle Sinne, du bist in der Natur, du bist im direkten Kontakt mit den Pflanzen. So reduziert Gartenarbeit Stress, steigert die Achtsamkeit und beugt durch den Kontakt mit Mikroorganismen Krankheiten vor. Angeblich verbessert sie sogar den Schlaf.“

„Muss ich dazu im Garten schlafen?“, fragte Monika. Beide lachten.

„Ich glaube nicht. Vermutlich reicht die Arbeit“, sagte Karsten.

„Dann freue ich mich schon darauf, das Gemüsebeet anzulegen“, sagte Monika.

„Ist das dein nächster Schritt auf dem Weg zum vollkommenen Selbstliebe-Garten?“, fragte Karsten.

„Ja“, sagte Monika und strahlte. „Und dann eine Kräuterschnecke und vielleicht einen kleinen Wasserlauf und…“

„Ah, ah, ah“, machte Karsten und hob mahnend den Zeigefinger. „Nicht übertreiben. Selbstliebe, nicht Selbstausbeutung. Überfordere dicht nicht. Eins nach dem anderen.“

„Danke“, sagte Monika. „Ich denke daran.“

„Und eins noch“, sagte Karsten. Monika schaute ihn fragend an. Was hatte sie noch falsch gemacht? „Vergiss nicht, die Früchte deiner Arbeit zu genießen. Auch das ist gelebte Selbstliebe!“