„Ach, gut, bei dir weiß ich, dass du kein Egoist bist“, sagte Monika, als sie Karsten, den Leiter ihres Meditationskurses, traf.
Hätte sie ihn mit einer chemischen Gleichung angesprochen, er hätte nicht verdutzter reagiert. Nach einer kurzen Pause antwortete er: „Ich befürchte, ich kann dir nicht ganz folgen. Aber zunächst: Hallo Monika, schön dich zu sehen.“ Dabei breitete er die Arme als Einladung zur Umarmung aus.
Monika nahm die Einladung an, drückte ihn, genoss den Moment der Geborgenheit und sagte: „Entschuldige. Ich treffe heute lauter Menschen, die nur auf sich achten. Die anderen sind ihnen egal. Ich habe langsam den Eindruck, es gibt nur noch Egoisten. Danke für die Umarmung. Das tut gut!“
„Finde ich auch! Lass uns gehen, sonst kommen wir zu spät zum Kurs. Du kannst mir auf dem Weg gerne von deinem Tag voll Egoisten erzählen. Vielleicht finde ich ja einen Weg, dir zu zeigen, dass die Menschheit nicht so schlecht ist, wie du denkst.“
„Ach, das bezweifle ich“, sagte Monika, während sie sich drehten und weitergingen. „Ich meine, es fängt doch schon ganz oben an. Ich meine, Trump, Putin, Orban, denen geht es doch nur um sich, das sind doch die größten Egoisten.“
„Mag sein, aber ich weiß nicht, ob die der Maßstab sein sollten. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie Menschen sind.“
Monika lachte. „Stimmt.“
„Ich glaube aber auch nicht, dass du einem von den dreien heute begegnet bist.“
Erster Egoist am Morgen
„Nein, das nicht. Aber es waren welche dabei, die waren nicht weniger unsympathisch. Es ging schon heute Morgen los. Ich musste noch tanken. Da dachte ich noch an dein Mantra, Selbstliebe leben, gönnst du dir einen Kaffee. Ich wäre als nächste an der Kasse dran gewesen, da kommt so ein Schnösel, so ein typischer Mercedesfahrer, nachhinten gegelte Haare, Siegelring.“
„Ja, ich weiß, was du meinst.“

„Also, der kommt rein, sorry, ich hab’s eilig, geht an mir vorbei an die Kasse, sagt seine Nummer, bestellt sich Kippen und einen Kaffee. Und der Kassierer sagt nichts. Bedient ihn einfach. Der Typ kommt damit durch. Ich war so perplex, ich konnte auch nichts sagen. Und das Schlimmste war, als der Typ seinen Kaffee hatte, musste die Maschine gereinigt werden. Dauert zehn Minuten, sagte der Kassierer. So viel zur Selbstliebe.“
„Wer weiß, vielleicht hat es dich davor bewahrt, dir beim Fahren heißen Kaffee in den Schoß zu kippen“, sagte Karsten mit dem Lächeln eines Weisen, so schmal, dass man es für eine Täuschung halten konnte, man sich aber sicher war, dass es da war.
„Oh, ich hoffe, das ist dem Mercedes-Typen passiert.“
„Was habe ich euch über Groll gesagt?“
„Ja, verträgt sich nicht mit Selbstliebe. Ich weiß.“
Überraschende Bekanntschaft
Sie kamen an einem Mann vorbei, der auf einem kleinen Kissen saß, das vielleicht einmal ein Sofakissen gewesen sein mochte. Jetzt diente es ihm als Unterlage, während er darauf wartete, dass jemand der Vorbeigehenden ihm ein paar Münzen in die Dose wirft, die er vor sich auf den Boden gestellt hatte. Haare, Kleidung und Kissen ließen erahnen, dass er schon seit einiger Zeit versuchte, so seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Monika zuckte überrascht zusammen, als Karsten vor dem Mann stehen blieb und sagte:
„Na, Manni, wie ist es?“
„Ja, muss. Und du?“, fragte der Mann.
„Bestens, wie immer. Danke. Das ist Monika“, antwortete Karsten und zeigte mit der rechten Hand auf Monika, während er sich leicht zur Seite drehte.
Manni lüftete seinen nicht vorhandenen Hut und verbeugte sich. „Sehr erfreut“, sagte er.
„Ebenso“, antwortete Monika, wobei sie sich anhörte, als habe sie Probleme, ihren Unterkiefer nach unten zu ziehen.
„Guter Tag heute?“, fragte Karsten.
„Geht so. War schon mal mehr. Aber wie sagst du immer? Gute Tage kommen von Innen, nicht?“
Karsen lachte. „Ja, genau. Wenigstens einer, der sich merkt, was ich sage.“
„Hey“, sagte Monika und warf Karsten einen bösen Blick zu.

„Nur ein Scherz“, sagte Karsten. „Wir müssen dann aber auch los. Also Manni, mach es gut, ja?“
„Klar. Du auch“, sagte Manni und hob die Hand zum Gruß. Dann blickte er zu Monika, verneigte sich wieder und sagte: „Die Dame.“
„Also, tschüss“, sagte Monika. Sie spürte ein Gefühl der Erleichterung, als Karsten und sie weitergingen. Im nächsten Moment schämte sie sich dafür.
Egoisten und die schwache Frau
„Hast du noch mehr Mercedesfahrer getroffen?“, fragte Karsten.
„Was?“, fragte Monika, immer noch mit der Situation beschäftigt, die sie gerade erlebt hatte. „Nein, zum Glück nicht. Obwohl, wer weiß. Vermutlich waren es sogar welche. Zumindest einige von ihnen.“
„Einige? Was ist passiert?“
„Ich musste heute mal wieder für die Chefs Akten ins Gericht bringen. Das ist normalerweise kein Problem. Aber das war ein großer Fall. Ein wirklich großer! Und, großer Fall heißt großer Aktenberg. Ich verstehe nicht, warum die nicht wie normale Menschen mit einem Laptop arbeiten können. Nein, Ordner. Wie in den Achtzigern. Jedenfalls waren es zwei große Kisten voll mit Aktenordnern. Keine Ahnung, was die Dinger wiegen. Natürlich war die Verhandlung im Hauptsaal. Der ist direkt beim Haupteingang. Der Parkplatz aber nicht. Der ist auf der Rückseite. Ich musste die Kisten durch das ganze Gerichtsgebäude schleppen. Ich hatte echt Angst um meinen Rücken. Glaubst du, es wäre auch nur ein Mensch auf die Idee gekommen, mir zu helfen? Einer sagt sogar noch: Die müssen ganz schön schwer sein. Guckt wie ein Pferd, aber helfen? Von wegen. Früher wären die Männer Schlange gestanden, um einer schwachen Frau zu helfen.“
„Fändest du es gut, als schwache Frau betrachtet zu werden?“
„Ach, du weißt, was ich meine.“
„Ja, schon“, sagte Karsten und streichelte Monika aufmunternd über die Schulter. „Wer weiß, womit die Menschen gerade beschäftigt waren. Ich meine, immerhin war es im Gericht. Vielleicht mussten sie sich gleich verteidigen oder ihre Scheidung verhandeln.“
„Und dann hat man keine Kraft mehr, Kisten zu tragen?“
Der Märchenprinz
„Vielleicht auch das. Eher aber nicht genug Achtsamkeit, um die Probleme anderer wahrzunehmen, wenn die eigenen einem gerade wie ein Jabberwocky vorkommen.“
„Wie ein was?“, fragte Monika.
„Ein Jabberwocky. Sag bloß, du kennst Alice im Wunderland nicht.“
„Doch, schon. Aber Jabberwocky?“
„Eine angebliches Ungeheuer. Der Hutmacher zitiert das Gedicht im dunklen Wald.“
„Okay. Das muss mir entgangen sein.“
„Solltest du dir mal wieder ansehen. Oder noch besser: Lesen. Aber ich kann mir tatsächlich gut vorstellen, dass die Leute im Gericht mit ihren Gedanken sehr bei sich sind.“
„Ja, mag sein. Aber es sind ja nicht nur die Leute im Gericht, die so sind. Es sind alle.“
„Wirklich?“, fragte Karsten. „Warte kurz.“
Irritiert blickte ihm Monika hinterher, als Karsten auf die Straße lief und mit erhobener Hand einem Autofahrer deutete, stehen zu bleiben. Er ging zu einer älteren Dame, die offenbar Probleme hatte, ihren Rollator von der Straße auf den Gehweg zu heben. Karsten beugte sich zu ihr hinab, lächelte sie freundlich an, hob mir ihr zusammen den Rollator hoch, griff ihr unter die Arme, um sicherzustellen, dass auch sie die Stufe schaffte. Die Frau funkelte ihn an wie eine Märchenprinzessin ihren Retter.
Während Monika auf Karsten wartete, bemerkte sie einen kleinen Jungen, der sich vor dem Stand des Obsthändlers rumdrückte. Er war vielleicht sieben, acht Jahre alt. Der Reisverschluss an seinem Rucksack war kaputt, seine markenlose Kleidung sah aus, als wäre er schon das dritte Geschwisterkind, das sie trägt. Er rieb die Hände aneinander, als könnte er sich nicht entscheiden. Mit leicht zittriger Stimme fragte er den Verkäufer:
Die egoistische Hand des Marktes?
„Wie viel kostet ein Apfel?“
„Das Kilo 4,99“, sagte der Obsthändler.
„Und einer?“
„Je nach Gewicht. Von denen einen Euro“, antwortete der Händler und zeigte auf eine Kiste mit perfekt geformten, rot glänzenden Äpfeln. Der Junge griff in seine Tasche, zog eine Hand voll Kleingeld heraus. Er streckte es dem Händler hin und sagte:
„Ich hab nur 76 Cent. Haben sie kleinere Äpfel?“

Der Obsthändler presste die Lippen zusammen, nahm eine Tüte, steckte zwei der rotglänzenden Äpfel hinein, band sie zu und reichte sie dem Jungen. Dieser griff zögernd zu.
„Aber ich hab nicht so viel Geld.“
„Passt schon“, sagte der Obsthändler und winkte ab.
Der Junge steckte das Geld wieder in die Tasche, zog langsam die Tüte zu sich, drückte sie mit beiden Händen an sich als trüge er einen Welpen und ging langsam. Dann drehte er sich dem Gesicht eines Kindes unterm Weihnachtsbaum nochmal um und sagte: „Danke!“
Inzwischen stand Karsten wieder bei Monika. „Was ist?“, fragte er.
Monika schüttelte den Kopf. „Nicht so wichtig.“ Sie zeigte auf die andere Straßenseite. „Ich hab die Frau gar nicht gesehen.“
„Es reicht ja, wenn einer sie sieht“, sagte Karsten.
„Ja, stimmt“, sagte Monika. Aber warum war ich nicht diejenige?
Ein Haufen Egoisten vs. Das Gute im Menschen
„Das heißt, ein Schnösel und ein paar Leute im Gericht lassen dich den Glauben an das Gute im Menschen verlieren?“
„Was heißt Glauben an das Gute? Ich habe einfach den Eindruck, dass jeder nur noch auf sich achtet. Als wären wir eine Gesellschaft aus lauter Egoisten. Keiner macht sich Gedanken darüber, ob er anderen damit schadet.“
„Kann es nicht sein, dass diese Menschen einfach mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Ich meine, wenn sich jemand an der Kasse vordrängelt, fällt es dir auf. Die hundert Leute, die sich nicht vordrängeln, die vielleicht sogar jemanden vorlassen, der nur ein oder zwei Dinge kauft, fallend dir nicht auf.“
„Ja, weil es normal ist, dass man sich nicht vordrängelt.“
„Normal heißt nicht, dass es keine Ausnahmen gibt. Ich glaube nicht, dass es die Mehrheit ist, die sich egoistisch verhält. Ich glaube, die meisten Menschen sind immer noch rücksichtsvoll und hilfsbereit.“
Der Parkplatzdieb
„So wie der Typ, der heute meinen Parkplatz blockiert hat?“
Karsten sah Monika mit einem mitleidigen Lächeln an. „Oh Gott, scheint, du hast echt einen schlimmen Tag gehabt. Erzähl.“
„Nach der Verhandlung musste ich die Akten zurück in die Kanzlei bringen. Und was ist, als ich dort ankomme? Steht so eine Protzkarre auf meinem Parkplatz. Dabei ist der überdeutlich mit dem Schild der Kanzlei und meinem Nummernschild gekennzeichnet. Und trotzdem ist der so dreist und stellt sich einfach auf meinen Parkplatz.“
„War es ein Mercedes?“, fragte Karsten und lachte.
„Keine Ahnung. So ein riesen Schlitten halt. Ich konnte aber ja nicht einfach so stehenbleiben. 15 Minuten hab ich gebraucht, bis ich einen Parkplatz gefunden hab. Zwei Blocks weiter.“
„Tut mir leid für dich“, sagte Karsten. „Vielleicht musste er unbedingt zu einem Anwaltstermin und war verzweifelt, weil er keinen Parkplatz gefunden hat.“
Der Rahmen macht das Bild
„Du könntest Anwalt werden.“
„Wieso?“
„Weil du immer einen Grund findest, um das unmögliche Verhalten anderer zu rechtfertigen.“
„Weißt du, ich hab mir das irgendwann angewöhnt.“
„Was? Andere in Schutz zu nehmen?“
„In gewisser Weise. Ich gebe ihrem Verhalten einen Rahmen, in dem ich es nachvollziehen kann. Dann empfinde ich keinen Groll mehr.“
„Muss ich das verstehen?“

„Ich mache ein Beispiel. Wenn ich mit dem Fahrrad in der Stadt fahre und ein Auto überholt mich trotz Gegenverkehr, touchiert mich fast, weil es zu eng ist. Dann denke ich mir, vielleicht hat er ein krankes Kind im Auto, das er so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen muss. Oder er verliert seinen Job, wenn er wieder zu spät kommt. Etwas in der Art. Das hilft mir, dass ich keinen Groll mehr empfinde. Ich wünsche ihm sogar Glück.“
„So einfach ist das?“
„Glaub mir, es erfordert eine Menge Übung. Aber wir haben ja oft genug die Gelegenheit.“
Dieb oder Retter
Plötzlich lief ein Mann unmittelbar vor ihnen vorbei. Fast wäre er in die beiden hineingelaufen. Monika und Karsten zuckten zurück. Hatte er etwas gestohlen? Nein, er eilte einem Paketboten zu Hilfe, der ein großes Paket aus seinem Transporter heben wollte und drohte, es fallen zu lassen. Zusammen schafften sie es, die Ware unbeschadet auszuladen. Der junge Mann, den Monika für einen Dieb gehalten hatte, half dem Paketboten sogar beim Ausliefern. Er und der Paketbote klatschten ein, bevor der junge Mann einfach wieder weiterging.
„Der hat mich ganz schön erschreckt“, sagte Monika.
„Ja, Hilfsbereitschaft kann einen überrollen. Aber dann stellt man fest, wie gut sie sich anfühlt.“
Monika dachte einen Moment lang nach. „Ich denke, ich bin nicht so hilfsbereit. Vielleicht bin ja ich die Egoistin.“
Bin ich die Egoistin?
Holger lachte laut auf. „Entschuldige“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Du bist alles, aber keine Egoistin.“
„Wirklich?“
„Ganz sicher, du kümmerst dich darum, dass es deinem Mann gut geht, deinen Kindern, deinen Kolleginnen und Chefs in der Kanzlei, deinen Freundinnen und wenn du noch Zeit hast, kümmerst du dich irgendwann um dich. Du bist keine Egoistin.“
„Aber, ich habe noch nie mit Obdachlosen gesprochen. Ich habe auch noch nie einer alten Frau mit dem Rollator geholfen.“
„Naja, ich habe keine Familie, zu der ich nach Hause muss. Dann kann ich auch mal mit Manni quatschen. Das mit der alten Dame war Zufall.“
„Und du denkst wirklich, dass wir nicht eine Gesellschaft aus lauter Egoisten sind?“
„Nein, auf keinen Fall. Und selbst wenn, können wir nichts anderes tun, als ihrem Verhalten einen positiven Rahmen zu geben und uns selbst besser verhalten.“
Karsten begann leise zu singen: „I’m starting with the man in the mirror…“
„Danke!“, sagte Monika und grinste Karsten an.
„Wofür?“
„Dafür, dass du auch mir immer hilfst.“
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