„Ich verschreibe dir jetzt Selbstliebe im Garten. Gartenarbeit ist gelebte Selbstliebe“, sagte Karsten, während er Monika mitfühlend über den Rücken streichelte.
„Wie, du verschreibst mir Selbstliebe im Garten?“, fragte Monika und blickte ihn verständnislos an als hätte er ihr eine Frage aus dem Matheabitur gestellt.
Karsten lachte. „Das machen sie in England“, sagte er. Da gibt es sogenannte Social prescribing link workers. Das sind so eine Art Sozialarbeiter für die Gesundheit und die bringen Leute, die unter mentalem Stress leiden in Gruppen, die sich in der Natur bewegen, wandern gehen, Outdoorsport machen oder eben im Garten arbeiten.“
„Und weil ich noch nicht genug Arbeit habe, soll ich jetzt noch mehr im Garten arbeiten?“, fragte Monika. Es klang für sie, als hätte er ihr zu einem schweren Rucksack auf dem Rücken auch noch einen vorne umgehängt.
„Ja, genau“, sagte Karsten mit seinem typischen Lächeln, das Monika immer an einen buddhistischen Mönch denken ließ, ein Lächeln der tiefen Ruhe in sich. „Diese Arbeit wird sich für dich nicht wie Arbeit anfühlen. Sie wird dir guttun, glaub mir.“
Selbstliebe heißt sich nicht zu überfordern
„Wenn ich nur daran denke, den ganzen Garten umzugraben, schreit mein Rücken schon um Hilfe“, sagte Monika, griff sich mit beiden Händen in den Lendenbereich um machte ein Hohlkreuz.
„Gut, dass du es ansprichst. Wie bei allen unseren Übungen gilt: Überfordere dich nicht. Selbstliebe leben heißt auch zu erkennen, wann etwas zu viel ist und dann eine Pause zu machen. Als du zu Meditieren begonnen hast, habe ich dir den Tipp von Chade-Meng Tan gegeben: ‚Ein bewusster Atemzug am Tag reicht‘. Zumindest für den Anfang. Und so ist es auch mit deinem Garten. Such dir etwas, womit du beginnen möchtest, zum Beispiel eine Kräuterschnecke, Beerensträuchern oder ein kleines Gemüsebeet. Nach und nach kannst du mehr in deinem Garten tun. Aber für den Moment reicht das“, sagte Karsten.
Monika dachte an ihre Zweifel, als sie das erste Mal in Karstens Kurs gekommen war. Zufällig. Aber sein Konzept von gelebter Selbstliebe machte sie neugierig. Heute ist vieles, was früher für sie unvorstellbar war, zu meditieren, täglich Gymnastik zu machen, für ihre Bedürfnisse einzustehen, so normal wie Zähneputzen. Ein sanftes Lächeln zog sich über ihr Gesicht. In ihrem Kopf begannen schon die Ideen zu sprudeln als hätte Karsten eine Quelle angestochen.
„Ja, ich glaube, so könnte das gehen. Ich erzähl es dir nächste Woche“, sagte sie.
„Ich freue mich darauf zu hören, was du gemacht hast. Bis dann“, sagte Karsten.
„Bis dann“, verabschiedete sich Monika.
Vorfreude auf den Selbstliebe-Garten
Am nächsten Tag machte Monika pünktlich Feierabend, obwohl es noch ein paar Papiere abzuarbeiten gab. Die konnten warten. Sie hatte gelernt, dass sie sich um sich kümmern müsse, damit sie dann wieder für andere da sein konnte. Das galt auch für ihre Arbeit. Gelebte Selbstliebe half ihr, insgesamt produktiver zu sein – auch, wenn sie sich dafür manchmal Auszeiten gönnte.
Am Abend hatte sie sich noch ein paar Inspirationen zur Gartengestaltung geholt. Tatsächlich fand sie sogar einen Artikel über 12 Kräuter für die Selbstliebe, aber sie wollte das Thema nicht überstrapazieren. Außerdem wusste sie nicht, wie sie die ganzen Kräuter verwenden sollte. Ein kleiner Wasserlauf mit Sitzmöglichkeit nach japanischem Vorbild hätte ihr auch gefallen, war aber für den Anfang etwas zu aufwendig. Also hatte sie sich für Beerensträucher entschieden. Die hätten neben der angeblich beruhigend wirkenden Gartenarbeit den positiven Nebeneffekt, dass sie jedes Jahr gesunde und leckere Beeren bekommen würden. Außerdem würden die Sträucher den alten Maschendrahtzaun verdecken, der ihr noch nie gefallen hatte. So würde ihr jeder Blick in den Garten künftig mehr Freude bereiten.
Beste Pflanzzeit sei im Herbst, der ja bald beginnen würde, im Grunde könne man sie aber immer pflanzen, hatte sie gelesen. Mit zwei Johannisbeersträuchern, einem Himbeer- und einem Stachelbeerstrauch fuhr Monika vom Baumarkt nach Hause. Anstatt dass die Sträucher aus dem Kofferraum gerufen hätten: ‚Wir sind mehr Arbeit für dich. Du musst noch mehr tun‘, hörte sie ein warmes Flüstern: ‚Wir machen deinen Garten schöner.‘ Die verschriebene Selbstliebe im Garten wirkte schon, bevor sie sich überhaupt an die Arbeit machte.
Beeren aus dem Garten schmecken und sind gesund
Am Freitag machte Monika zum Abendessen einen Stachelbeer-Griesauflauf. Natürlich mit gekauften Stachelbeeren. Die Sträucher waren noch nicht gepflanzt, die erste Ernte würde es im nächsten Jahr geben. Monika empfand aber eine Vorfreude, wie sie sie zuletzt mit 13 gespürt hatte, als sie zur Firmung das neue Fahrrad geschenkt bekommen sollte. Diese Vorfreude und das tiefe Empfinden von Glück, das allein die Existenz der Sträucher in ihr auslöste, wollte sie mit der Familie teilen.
„Was ist das?“, fragte Florian, als sie den goldbraunen Auflauf aus dem Ofen holte.
„Stachelbeer-Griesauflauf“, sagte Monika.
„Interessant“, sagte Holger.
„Was sind Stachelbeeren?“, fragte Florian.
„Auch eine Beerenart. Wie Himbeeren und Blaubeeren“, sagte Monika, da sie nicht glaubte, dass Florian an einer tiefergehenden botanischen Erläuterung interessiert war. Die hätte sie auch nur von Wikipedia vorlesen können.
„Sind die sauer?“, fragte Sophie.
„An sich ja“, sagte Monika. „Aber natürlich ist der Auflauf mit so viel Zucker, dass das nicht mehr ins Gewicht fällt.“
„Zucker, Zucker, Zucker“, sang Florian wie Fans in einem Fußballstadion.
„Schön, dass man dich zumindest so dazu bringen kann, nicht bei jedem Essen auf Fleisch zu bestehen“, sagte Monika.
„Ach, jetzt wo du es sagst“, sagte Florian und tat so, als würde er aufstehen und zum Kühlschrank gehen.
„Probier!“, sagte Monika mit gespielt drohendem Gesichtsausdruck.
„Kann man essen“, sagte Florian. Von ihrem Sohn fasste sie das als Kompliment auf.
„Mir schmeckts richtig gut, Mami“, sagte Sophie.
„Mir auch“, sagte Holger.
Monika probierte selbst. Da die Stachelbeeren beim Backen nach unten gesunken waren, schmeckte sie als erstes, den säuerlichen Geschmack der Stachelbeeren, gefolgt von Süße und leichten Zitrusaromen und der Vanille im Gries. Das zweite Glücksgefühl, das ihr der Selbstliebe-Garten bescherte, bevor sie überhaupt einen Schritt in diesen gemacht hatte.
Gemeinsam Selbstliebe leben beim Pflanzen im Garten
Das Gras war noch feucht von der Nacht, die kühle Morgenluft roch nach der Lebendigkeit des neuen Tages. Ein paar Schleierwolken zogen über den schüchtern blauen Himmel. Beherzt trat Monika auf das Schaufelblatt, bog den Stil nach hinten und hob die erste Schaufel voll Erde in den Schubkarren. Schnell folgten weitere und bald war ein Loch, in das der Wurzelstock des ersten Himbeerstrauchs gut hineinpasste, ausgehoben. Holger half ihr, den Stock einzusetzen, hielt ihn vorsichtig oben fest, während Monika den Hohlraum mit Erde füllte und sie ringsum vorsichtig festdrückte. Gleichermaßen gingen sie bei den drei weiteren Sträuchern vor. Zufrieden traten sie einen Schritt zurück und begutachteten ihr Werk. Monika war zufrieden. Sie legte einen Arm um Holgers Hüfte, ging leicht auf die Zehenspitze, gab ihm einen Kuss auf die Wange und sagte: „Danke.“
„Ich hab nicht viel gemacht“, sagte Holger.
„Du hältst mich aus, auch wenn ich verrückte Dinge wie Meditationskurse mache, mich beim Wandern verlaufe oder ich eben einen Selbstliebe-Garten will“, sagte Monika.
„Du hältst mich aus, wenn ich stundenlang im Keller irgendwelchen Metallfreunden mehr Aufmerksamkeit schenke als meiner Familie.
„Ich liebe dich“, sagte Monika.
„Ich dich auch“, sagte Holger.
„Und, hast du mein Rezept eingelöst?“, fragte Karsten als Monika am nächsten Montag den Meditationsraum betrat.
Unwillkürlich begann Monika zu lächeln. Sie nickte. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut der Selbstliebe-Garten tut. Dabei habe ich noch gar nicht viel getan.“
Der Selbstliebe-Garten wirkt
„Aber du hast was getan? Ich bin gespannt, erzähl“, sagte Karsten.
„Ich habe nur ein paar Beerensträucher gepflanzt. Mehr nicht. Aber schon fühle ich mich wohler, glücklicher und zufriedener in meinem Garten. Und auch das Pflanzen selbst hat sich nicht angefühlt wie zusätzliche Arbeit, sondern hat richtig Spaß gemacht, wie ein Ausflug mit der Familie oder, wie Meditation. Besonders schön war es, dass Holger mitgemacht hat. Und das ohne, dass ich ihn fragen musste.“
Karsten lachte. „Dann ist der Selbstliebe-Garten ja gut für euch beide. Das ist ja phantastisch. Gartenarbeit ist einfach toll. Sie stimuliert alle Sinne, du bist in der Natur, du bist im direkten Kontakt mit den Pflanzen. So reduziert Gartenarbeit Stress, steigert die Achtsamkeit und beugt durch den Kontakt mit Mikroorganismen Krankheiten vor. Angeblich verbessert sie sogar den Schlaf.“
„Muss ich dazu im Garten schlafen?“, fragte Monika. Beide lachten.
„Ich glaube nicht. Vermutlich reicht die Arbeit“, sagte Karsten.
„Dann freue ich mich schon darauf, das Gemüsebeet anzulegen“, sagte Monika.
„Ist das dein nächster Schritt auf dem Weg zum vollkommenen Selbstliebe-Garten?“, fragte Karsten.
„Ja“, sagte Monika und strahlte. „Und dann eine Kräuterschnecke und vielleicht einen kleinen Wasserlauf und…“
„Ah, ah, ah“, machte Karsten und hob mahnend den Zeigefinger. „Nicht übertreiben. Selbstliebe, nicht Selbstausbeutung. Überfordere dicht nicht. Eins nach dem anderen.“
„Danke“, sagte Monika. „Ich denke daran.“
„Und eins noch“, sagte Karsten. Monika schaute ihn fragend an. Was hatte sie noch falsch gemacht? „Vergiss nicht, die Früchte deiner Arbeit zu genießen. Auch das ist gelebte Selbstliebe!“
„Ich möchte doch nur hin und wieder etwas Schönes machen, verstehst du?“, fragte Monika.
„Ja klar, verstehe ich“, antwortete Cornelia, die schräg wie der Turm in Pisa dasaß, den linken Ellenbogen auf den Tisch gestützt, mit der Faust den Kopf gestützt. Monoton wie das Rührwerk der Kläranlage durchmischte sie den Rest ihres Coconut Margaritas mit den kaum mehr sichtbaren Resten der Eiswürfel und dem Schmelzwasser, das inzwischen der Hauptbestandteil des Cocktails war.
Sie konnte nicht sagen, wie oft sie diesen Satz von Monika heute schon gehört hatte. Endlich unternahmen sie mal wieder etwas zu zweit – ohne Kinder, ohne Männer. Sie wollte tratschen über alte und weniger alte Freundinnen, oder besser Bekannte, die man zwar oberflächlich als Freundin bezeichnete, von denen man aber hoffte, dass sie einen nicht anrufen, wenn sie einmal ernsthafte Probleme haben, da man alles will, nur nicht gezwungen sein, für sie da zu sein und die Untiefen ihrer Seele offenbart zu bekommen.
Die Bedeutung von Freundschaft
Sie wollte endlich mal wieder mit jemandem teilen können, wie es ihr geht, wie es ihr wirklich geht. Nicht dieses oberflächliche ‚Hi, wie geht es dir?‘, bei dem erwartet wurde, dass der Gefragte mit ‚Gut, danke. Und dir?‘ antwortet und einen nicht mit all dem überschüttete, was ihm dem Schlaf raubt, was ihn an seiner Arbeit nervt, wie sehr ihn die Kinder stressen und dass er glaubt, dass seine Frau einen anderen hat, da es sich bei dem ‚Hi, wie geht es dir?‘ nur um eine Grußformel und nicht um Interesse handelte.
Sie wollte all das aussprechen können, was man nie hätte in der Öffentlichkeit sagen können, weil man so etwas halt einfach nicht sagte, weil sich das nicht gehörte. Was würden denn die Leute sagen? Aussprechen, dass sie sich manchmal ausmalte, wie es wäre, ihre schönsten Kleider in einen Koffer zu packen, one-way nach Florenz zu fliegen, sich ein kleines Häuschen mit Garten mit Oliven- und Zitronenbäumen in den sattgrünen Hügeln der Toskana zu mieten und allen Verpflichtungen von Ehe, Kindern, Haushalt und Arbeit zu entfliehen.
Natürlich würde sie das nie tun. Sie liebte ihren Mann, sie liebte ihre Kinder, sie war mit ihrer Arbeit ganz zufrieden und würde all das nie verlassen. Aber manchmal, hin und wieder, ganz selten, kamen solche Gedanken. Die Flucht in den Garten Eden der Phantasietoskana war doch das beste Mittel, um all den Ärger und Frust abzustreifen, wenn man ihn einfach vor dem imaginierten Flieger auf dem Betonboden des Flughafens wie ein vergessenes Gepäckstück zurücklassen konnte. Besonders hilfreich war eine solche Reise, wenn man sie teilen konnte.
Ein solches Teilen, wie es ihr wirklich geht, war nur bei einer guten Freundin möglich, einer wirklich guten. Am besten bei ihrer besten Freundin. Und ihre beste Freundin war Monika. Allerdings war Monika heute nicht in der Lage, gemeinsam das süße Leben im Süden auszumalen als befände sich die Bar, in der sie saßen, inmitten einer jahrhundertealten Hügelstadt aus terrakottafarbenen, von Hand gefertigten Ziegelsteinen, in deren Gassen man in wolkenlosen Nächten noch das Leben im Mittelalter beobachten konnte.
Monika ist zwar in der Bar aber nicht da
Monika war überhaupt nicht in der Lage, bei Cornelia zu sein. Sie war zwar körperlich da, ihr Geist war aber immer noch zu Hause bei ihrem Mann Holger, der an diesem Tag die oberste Sprosse der Leiter der Enttäuschungen für Monika erreicht hatte.
Der Aufstieg auf dieser Leiter begann wenige Wochen nachdem sie in ihr gemeinsam gebautes Haus gezogen waren. Monika liebte das Haus. Sie liebte die Gauben auf beiden Seiten, den Balkon wie er für das Voralpenland typisch war, in dessen Kästen sie im Sommer rote und weiße Geranien pflanzte, die überdachte Terrasse, von der aus man auch während eines Sommergewitters trocken und geschützt auf die Rasenfläche, die den Kindern als Turnboden, Fußballplatz, Spielplatz oder Bühne für unterschiedlichste Theaterstücke – von Western über Piratenkämpfe bis hin zu Weltraumabenteuern – diente, blicken konnte, die ringsum von Korkspindeln, Goldregen, Zierjohnannisbeere, Hibiskus, Forsythien und Flieder eingerahmt wurde wie ein Amphitheater von den Zuschauertribünen. Sie liebte die Treppe aus sandsteinfarbenem Marmor, über die man auf die Galerie gelangte, von der aus man durch zwei Dachfenster in den Sternenhimmel blicken, in eines der Kinderzimmer, ins Elternschlafzimmer oder ins obere Badezimmer gehen konnte. Sie liebte die Küche mit dem rechteckigen Kochblock, an dessen vorderer Seite man wie an einer Bar sitzen konnte, die sich direkt über den Essbereich zum Wohnzimmer hin öffnete, sodass es einen großen Raum gab, indem sich das gesamte Sozialleben der Familie abspielte. Genau dieses Sozialleben war es aber, das die meisten Sprossen in der Leiter der Enttäuschungen bildete.
Sozialleben – nicht vorhanden
Kurz gesagt: Es existierte nicht mehr. Was Monika an ihrem Haus nämlich nicht mochte, war das unsichtbare Band, dessen eines Ende an Holger und dessen anderes Ende in Holgers Hobbyraum befestigt war und dessen Zugkraft zuzunehmen schien, je weiter sich Holger von seinem Hobbyraum entfernte. In seinem Hobbyraum feilte, schliff, schnitt oder bog er wie ein Uhrmacher an mechanischen Teilen oder schrieb die Programme, die den dann fertigen Roboter anwiesen, was er tun sollte. Der Roboter folgt den Programmen wie du deinen Backrezepten, hatte er ihr erklärt. Dass er sie mit hirnlosen Maschinen, die blind Befehlen gehorchten, verglich, steigerte Monikas Begeisterung für Holgers Hobby nicht gerade. Aber sie akzeptierte es.
Das Roboterbauen war nicht das Problem, schließlich hatte er dies auch schon getan, als sie ein Paar wurden. Damals bestand noch kein unsichtbares Band zwischen Holger und seiner Werkbank (die damals auch noch der Küchentisch in seiner Studentenwohnung war). Zumindest war es nicht so stark, dass er sich nicht für einige Stunden hätte entfernen können, um mit Monika Zeit zu verbringen, wobei es eigentlich egal war, ob sie in einem Restaurant im Kerzenschein zu Abend aßen, ob sie ein experimentelles Stück auf einer Kleinkunstbühne ansahen oder ob sie ein Konzert eines Popstars besuchten, dessen Lieder Monika in Holgers Armen geschmeidig werden ließ wie eine Seidenbettdecke. Wichtig war, dass sie beisammen waren, dass sie Erlebnisse hatten, die sie beide in ihr inneres Erinnerungsregal stellen und die sie gemeinsam hervorholen, betrachten und polieren konnten.
Bereits während sie das Haus gebaut hatten, hatten sie begonnen, weniger Zeit mit gemeinsamen Aktivitäten außerhalb des Hauses und mehr mit gemeinsamen Aktivitäten auf der Couch zu verbringen, bei denen die Bewegung sich nach dem sie ihren Feierabend mit Steineschleppen, Mörtel mischen oder Schlitze für die Stromleitungen schlagen verbracht hatten, auf das drücken der Knöpfe der Fernbedienung oder das Führen von Chips, Schokocrossis oder Gummibärchen von der Schüssel in den Mund beschränkte.
Interesse nimmt schnell ab
Nach dem Umzug verbrachten sie zwar auch viel Zeit zu Hause, hatten aber oft Freunde oder Familie zu Gast, da jeder das neue Haus sehen wollte. Nachdem dann die Kinder da waren, wanderten die Besuche vom Abend mit Bier, Wein und Cocktails zu Nachmittag mit Kuchen, Kaffee und Kacka in der Windel.
So wie das Interesse am Haus nachließ, nachdem jeder der Freunde, Verwandten und Bekannten es ausgiebig begutachtet und kommentiert hatte, ließ auch das Interesse an den Kindern mit zunehmender Größe der selben nach.
Gleiches galt für die Zweisamkeit, da Monika nachdem sie den ganzen Tag Windeln gewechselt, Wickeltaschen geschleppt, mit zwei Kindern, die weniger hörten als taube Hunde, einkaufen und mit ihnen am Spielplatz war, wo sie zwischen den Niederungen der Tunnel, Büsche und Hecken, die die kleine Sophie krabbelnd erkundete und den zum Himmel orientierten Erkundungen von Klettergerüsten und Bäumen von Florian hin und her hechtete wie ein Torwart beim Aufwärmtraining, so erschöpft war, dass sie während der drei ruhigen Atemzüge auf der Couch, die sie sich gönnen wollte, nachdem die beiden endlich eingeschlafen waren, selbst in Hypnos Reich hinüberglitt, bevor sie es überhaupt ins Bett geschafft hätte.
Während Monika versuchte, die Kinder zum Schlafen zu bringen, versuchte Holger zwei Etagen tiefer seine Roboter aus selbigem zu erwecken, bis er so müde war, dass die Bauteile vor seinen Augen zu einem abstrakten Kunstwerk verschwammen und er beschloss, selbst zu Bett zu gehen. Auf dem Weg dorthin weckte er Monika, damit sie vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer wechseln und gerade genug Energie tanken konnte, um der doppelten Ladung ihrer Kinder zumindest so weit Herr werden konnte, dass diese es auch am nächsten Tag wieder einigermaßen unversehrt ins Bett schafften.
Da Monika nach Besorgungen, Kindern, Kochen und Haushalt so dankbar für ein wenig Ruhe war wie jemand, der bei einem Rockkonzert sein zu laut eingestelltes Hörgerät weder herausnehmen noch leiser stellen konnte, hatte sie kein großes Verlangen, dass Holger etwas an seiner Gewohnheit sich am Abend wie ein Grottenolm in unterirdische Gefilde zurückzuziehen, ändern sollte.
Plötzlich Zeit
Dies änderte sich auch nicht groß, als die Kinder in Kita bzw. Kindergarten gingen und sie Stück für Stück die Zeit, die sie mit Kinderbetreuung verbracht hatte, durch Arbeit als Anwaltsgehilfin tauschte, wo sie teilweise auch in die Knie gezwungen wurde, wo ihre Gegenüber zwar weniger kleckerten und keine Windeln trugen – zumindest musste ihnen Monika nicht beim Wechseln dieser behilflich sein -, deswegen aber nicht unbedingt weniger quengelig und uneinsichtig waren, wenn sie sich, was eigentlich bei einhundert Prozent der Klienten der Fall war, im Recht sahen.
Als die Kinder in das Alter kamen, in dem die Eltern schwierig werden, sie die Küsse der Eltern als ‚ekelig‘ bezeichnen, sie Umarmungen, wenn überhaupt nur zu Hause und auch dort nur unter Protest über sich ergehen lassen, trat, so leise und unbemerkt, wie ein Tiger, der durchs Unterholz schleicht und den du erst wahrnimmst, wenn er zum Sprung auf dich ansetzt, so dass das einzige, was du noch tun kannst ist, den Ansatz eines Angstschreis in die Welt zu hauchen, Zeit in Monikas Tage. Freie Zeit. Zeit, die die nicht für eine Aktivität (oftmals für mehrere gleichzeitig), reserviert und von der immer zu wenig da gewesen war, weswegen sich Monika häufiger die Frage stellte, wieso die Genies im Silikon Valley sich mit der Erfindung von Tech-Spielzeug aller Art beschäftigten, anstatt damit, wie man mehr Stunden in einen Tag pressen konnte, wenn doch alle immer in Eile und schließlich Zeit Geld war.
Nun hatte sie Zeit. Die Kinder beschäftigten sich entweder mit dem, was die Genies im Silikon Valley tatsächlich erfunden hatten, an Stelle von dem, was sie in Monikas Augen hätten erfinden sollen, oder waren bei Freunden, wo sie vermutlich das Gleiche taten. Holger eiferte den Westküstengenies zwar in Sachen Technikbegeisterung und Enthusiasmus das ‚Next Big Thing‘ zu erfinden nach, war dabei aber nicht so erfolgreich wie diese, zumindest nicht dahingehend, dass er etwas erfunden hätte, das Jugendliche in ähnlichem Maße gefesselt hätte, dass sie ihre Eltern angefleht hätten, es ihnen zu kaufen, wie ein Junkie, der seit Tagen keinen Stoff mehr hatte.
Alleine mit freier Zeit
Weniger Erfolg aber gleicher Zeitaufwand bedeutete, dass er im Gegensatz zu Monika nach wie vor keine freie Zeit hatte – zumindest sah er das nicht so, während er in Monikas Augen die Zeit im Keller natürlich auch hätte anderweitig verwenden können -, weswegen Monika ihre Zeit allein verbringen musste. Ein Umstand, der ihr nach den ersten beiden entspannten Abenden nicht mehr uneingeschränkt zusagte.
Die ersten Abende nur für sich in einer Ruhe, die einem Kloster bei einem Schweigeseminar in nichts nachstand, war nach Jahren, in denen immer jemand etwas von ihr wollte und gefühlt keine drei Minuten vergingen, in denen nicht eines der Kinder – oft auch beide gleichzeitig – ‚Mama‘ oder jemand – Holger, ihre Chefs, deren Klienten, die anderen Mütter bei der Kindergartenelternvertretung, ihre Eltern, der Postbote, Werbeanrufer – ihren Namen gerufen hätte, lösten bei ihr ein solches Glücksgefühl aus, wie es früher nur Live-Konzerte, Alkohol oder Sex (am besten alles am selben Abend) getan hatten. Allerdings nahm der Grenznutzen der ruhigen Abende in etwa so schnell ab wie der von Autos, weswegen sie bereits am dritten Abend gerne von jemandem Unterhalten worden wäre, der nicht an die Größe des Fernsehers gebunden war.
Als sie Holger von ihrem Bedürfnis nach etwas weniger Ruhe und ein bisschen mehr Geselligkeit erzählte, aktivierte sie bei ihm offenbar Erinnerungen an ihre Zeiten der Zweisamkeit, weswegen er zustimmte, noch am selben Abend seinen Robotern an Stelle seiner Frau eine Pause zu gönnen.
Ein kurzes Aufblühen
Wie eine Blume, die eigentlich schon totgeglaubt war, blühten ihre gemeinsamen Abende wieder auf, verloren aber schnell Blatt um Blatt, bis sie letztlich doch wieder verblüht waren. Holgers anfängliche Euphorie, die sich nicht nur in Zweisamkeit vor dem Fernseher oder bei einem Glas Wein auf der Terrasse, sondern wenn die Kinder bei Freunden waren, in Restaurant-, Kino-, Konzert- oder Theaterbesuche verwandelte, ließ ebenso nach wie die Begeisterung für Liquido, als ‚Narcotic‘ so oft gespielt worden war, dass sich die Reaktion der Hörenden an Stelle von Ekstase immer mehr dem Titel näherte.
Immer öfter sagte er, dass er keine Lust zum Ausgehen habe, wobei die Ausreden in Monikas Ohren vorgeschoben wirkten – nicht schon wieder dieses Restaurant, über dieses Theaterstück hatte er schlechte Kritiken gelesen, dieses Konzert sei ihm zu laut, im Kino läuft heutzutage sowieso nichts Gutes mehr. Immer öfter blieb er wieder länger im Bastelkeller. Immer öfter kam er erst hoch, als Monika bereits ins Bett gegangen war – allein und frustriert.
Nach einem kurzen Triumph, der Hoffnung in ihr aufkeimen ließ, war sie Monika vernichtend von den Robotern besiegt worden. Wer hätte gedacht, dass Roboter einen Kampf gewinnen würden, in dem es nicht um Waffenstärke ging, sondern um Zuneigung und Aufmerksamkeit?
Grottenolm mit Grottenstimmung
Dass Holger nach einer kurzen Entdeckungsreise in die von der Sonne beschienen Welt sich wieder in seine Höhle zurückzog, musste aber nicht bedeuten, dass Monika das Gleiche tun musste. Wenn Holger nichts mit ihr unternehmen wollte, würde sie eben mit Cornelia ausgehen. Das hatten sie in den letzten Jahren ohnehin viel zu selten gemacht – seit Monikas Kinder da waren nicht mehr abends und nicht zu zweit. Die Freude über den ersten ausgelassenen Abend in dem neuen spanischen Restaurant, bei dem vor allem der Geschmack des rubinroten Riojas überzeugte, der neben Alkohol scheinbar iberisches Temperament in den Kreislauf der Trinkenden fließen ließ, was zu angeregten Unterhaltungen und Tänzen auf offener Straße führte, bei denen die Musik nur von den Tanzenden gehört wurde, hielt nur bis zum nächsten Morgen.
Dabei war es weniger der alkoholbedingte Kater, der erstaunlich mild ausfiel (offenbar war es wirklich guter Rioja), als vielmehr der große Kater, der lieber zu Hause saß als draußen auf Mäusejagd zu gehen, der unmittelbar nachdem Monika verschlafen in die Küche gewackelt kam, damit begann zu lamentieren, wie schlimm es für ihn gewesen sei, dass sie nicht da war. Florian hatte noch Hilfe bei den Mathehausaufgaben benötigt, was ganze 33 Minuten von Holgers Bastelzeit in Anspruch genommen hatte und Sophie hatte seine Arbeit insgesamt drei Mal unterbrochen, weil sie das T-Shirt nicht fand, das sie am nächsten Tag anziehen wollte, weil die Insta-App auf ihrem Smartphone nicht funktionierte und weil sie noch kein Geschenk für den morgigen Geburtstag ihrer besten Freundin hatte und somit mehr als eine Stunde seiner Zeit gefordert.
Eigene Bedürfnisse egoistisch?
Obwohl es selten vorkam, dass Monika etwas unternahm, stellte dies für Holger jedes Mal ein so großes Problem dar, dass es wochenlang erwähnt und kommentiert werden musste. Epische Dramen wurden ausgemalt von den anstrengenden Abenden, an denen er für beide Kinder da sein musste, mit ihnen die Schulsachen für den nächsten Tag vorbereiten, teilweise sogar noch Hausaufgaben machen und in ganz schlimmen Fällen, wenn Monika sich mit Cornelia zum Abendessen verabredet hatte, das vorbereitete Abendessen aufwärmen musste. Noch dramatischer wurde es, wenn, wie beim ersten Ausgehen, die Übernahme aller Pflichten sich nicht nur auf den Abend des Strohwittwerdaseins erstreckte, sondern bis in den nächsten Morgen dauerte und somit Frühstück und Pausenbrot die Belastung in fast schon übermenschliche Sphären trieben, für die Clark Kent sich in Superman hätte verwandeln müssen.
Dieses Gezeter verleidete Monika die schönen Abende, die ihr so guttaten, die sie eigentlich mit Energie aufluden wie einen Akku an der Ladestation, sodass sie die nächsten Wochen wieder gut gelaunt, fürsorglich und liebevoll für die Familie da sein und sich neben ihrem Beruf noch um Einkauf, Haushalt, Organisation des Familienlebens und alles was sonst noch anfiel (außer Rasenmähen, das machte Holger) kümmern konnte.
Holger sah offenbar nicht, dass es für Monika nötig war, sich um sich selbst zu kümmern, damit sie dann wieder für alle anderen da sein konnte. Anstatt sie zu unterstützen, entzog er ihr mit seinem ewigen Lamentieren die Energie schneller als das Wasser aus einem Stausee fließt, wenn alle Schleusentore geöffnet werden.
Dieses Mal wartete Holger mit dem Drama nicht bis zum Morgen danach, um Monika ihre Freude nachträglich zu verleiden, sondern er begann bereits, als sie ihm sagte, dass sie sich mit Cornelia treffen würde. Die erste Reaktion war ein tiefes Seufzen und Verdrehen der Augen wie ein Lehrer, der die gesamte heutige Schülergeneration als faul, dumm und nutzlos ansah und nur noch auf das Ende des Schuljahres wartete, bis er endlich in die verdiente Pension gehen konnte.
Du suchst mehr Informationen darüber, wie du Selbstliebe leben kannst? Hier findest du mein Selbstliebe-Konzept
Die Leiden des Zurückgelassenen
An den folgenden Tagen wandelte sich der Ausdruck von Holgers Unzufriedenheit stufenweise von passiver Leidensdemonstration zu offener Ablehnung. Von in den Raum geworfenen Fragen wie: „Wer hilft mir, wenn ich auf die Kinder aufpassen muss?“, als Reaktion auf Monikas bitte, ihr beim Abwasch zu helfen über mitleidsheischendes: „Ich wäre ja schon viel weiter mit meinen Robotern, wenn ich nicht ständig abgelenkt werden würde“, bis hin zu: „Du sagst doch immer, dass du so gerne Zeit mit den Kindern verbringst. Warum bleibst du dann nicht bei ihnen zu Hause?“, reichte das Programm.
Vollends verdarb er Monika die Freude auf ihren Abend mit Cornelia, als er zur Verabschiedung anstelle von: „Ich liebe dich!“, oder: „Viel Spaß!“, sagte: „Amüsiere du dich ruhig, während ich mich hier um alles kümmere!“
Er kümmerte sich um alles? Wenn alles Rasenmähen und einmal im Monat auf die Kinder aufpassen war, ja. In Monika brodelte es heftiger als in einem Kochtopf bevor die Spaghetti hineinkommen. Während man diese nach spätestens 10 Minuten aber abgießt und das Brodeln somit beendet, hätte Monika an diesem Abend für einen klebrigen Klumpen aus Nudelteig gesorgt, da sie immer weiterbrodelte.
Das Abgießen übernahm Cornelia nach gut zwei Stunden. Sie war gerade dabei Monika zu berichten, wie unzufrieden sie in der Arbeit ist, da sie diejenige ist, die sich im Hintergrund um alles kümmert, dafür aber keinerlei Anerkennung bekommt, als Monika sie mitten im Satz unterbrach, um zum sechsten Mal an diesem Abend wieder zum Gründungsmythos ihrer ehelichen Ungerechtigkeit zurückkehrte.
Cornelia hat genug und steht für sich ein
„Monika, ich bin deine beste Freundin“, fuhr ihr Cornelia über den Mund, „aber genug ist genug. Ich bin gerne bereit, mir jegliches Leid von dir anzuhören. Ich bin auch bereit, mit dir zu überlegen, was du unternehmen kannst, damit ihr beide zu einer Lösung kommt. Gerne auch, wie du Holger loswerden kannst, wenn er so schlimm ist. Aber ich bin nicht bereit, dein Mülleimer zu sein, in den du dich nur auskotzt. So einseitig kann eine Freundschaft nicht funktionieren. Bei allem Verständnis.“
Cornelia stand auf, nahm ihren Geldbeutel aus der Handtasche, warf einen 50 Euro Schein auf den Tisch, drehte sich um und ging. Monikas Mund stand offen wie eine Tropfsteinhöhle. Sie blickte Cornelia noch hinterher als diese bereits den halben Weg nach Hause zurückgelegt haben musste.
Wie ein Sprössling, der sich langsam durch die Erde ans Licht schiebt, kamen erste klare Gedanken in ihr Bewusstsein. Cornelia hatte Recht. Sie hatte ihr nicht ein Mal zugehört. Natürlich hatte auch sie sich den Abend anders vorgestellt. Aber nun war sie da, war bei Cornelia, hätte die Zeit mir ihr auch genießen können. Doch anstatt ihre Stimmung, die so heiter war wie ein verregneter Herbstmorgen, zu Hause zu lassen und die kleine Lücke in den Wolken zu genießen, brachte sie diese mit und sorgte für Dauerregen.
Natürlich konnte man bei einer Freundin die Spannung entladen. Wie bei einem Sommergewitter musste danach aber die Sonne wieder strahlen.
Die Einsicht
Sie hatte sich unmöglich verhalten. Es stimmte, sie hatte Cornelia wie einen Mülleimer behandelt. Nicht nur ein bisschen, sondern den gesamten Abend. Alles wegen dieser blöden Auseinandersetzung mit Holger. Nur weil er lieber ein Grottenolm als eine Fledermaus war.
Sie spürte, wie Puls und Atmung sich beschleunigten. Warum musste er ihr das bisschen Freiheit auch noch vermiesen?
Aber, was hatte Cornelia gesagt? Holger verlassen? Nein! Sie wollte ihn nicht verlassen. Natürlich nicht. Sie liebte ihn! Sie liebte ihre Familie! Nicht eine Sekunde hatte sie daran gedacht, ihn zu verlassen.
Gut, er hätte aufmerksamer sein können. Es stimmte, er hätte sie mehr unterstützen können, ihr öfter den Rücken freihalten, mal von sich aus etwas nur für sie tun. Nicht nur zum Geburtstag, einfach so. Aus Liebe. Aber dazu war er nicht der Typ. War er nie gewesen. Vor der Hochzeit schon nicht, wieso sollte er es dann jetzt sein? Sie hatte ihn so geheiratet, so kannte sie ihn, so liebte sie ihn. Verlassen? Nein!
Allerdings ließ er sie oft allein, während sie nur einmal im Monat etwas allein unternahm – und das wie an diesem Abend mit so viel Widerstand, dass sie nicht eine Sekunde hatte genießen können. Dass sie sogar Cornelia den Abend versaut hatte. So sehr, dass diese wutentbrannt abgegangen war, viel zu viel Geld auf den Tisch geworfen und ihr angeboten hatte, sie zu unterstützen, wenn sie Holger verlassen würde.
Aber das kam nicht in Frage. Oder? Sie spürte, dass sie ein wenig ins Wanken geriet. Ganz leicht, wie eine Tanne bei seichtem Wind. Es war kein starkes Schwanken, nichts Bedrohliches. Aber spürbar. Sie konnte das Wanken wahrnehmen. War sie zunächst so fest in ihrer Meinung, dass sie Holger jemals verlassen könnte, wie die Wurzeln der Tanne im Waldboden, hatte sie sich, während sie darüber nachdachte dem Wipfel der Tanne genähert, der sich im Gegensatz zu den Wurzeln von einer Seite zur anderen bewegte.
Ihren Mann verlassen?
Ihn verlassen. Monika ließ die Worte in ihrem Geist nachklingen. Ihn verlassen. Ihn verlassen? Wo sollte sie hin? Das kleine Haus ihrer Eltern war nicht groß genug für sie und die Kinder. Zu Cornelia? Viel zu kleine Wohnung. Außerdem war die sauer. Richtig sauer.
Oder würde Holger ausziehen? Wo sollte der hin? Seine Eltern waren zu weit weg. Freunde hatte er keine. Ins Hotel? Dafür war er zu knauserig. Wahrscheinlich würde er im Auto schlafen. Er würde sich irgendwelche Sandwiches an der Tankstelle kaufen. Er konnte ja nicht mal kochen. Er konnte nicht putzen. Wie sollte er einen Haushalt führen?
„Nein“, rief Monika so laut, dass sich die Gäste an den Nebentischen zu ihr umdrehten. Sie lächelte verlegen und hob entschuldigend die Hand. Sie wollte das nicht laut sagen, aber sie war überzeugt von dem, was sie gesagt hatte. Sie würde Holger nicht verlassen. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn wirklich. Und er liebte sie. Das wusste sie.
Aber es musste sich etwas ändern. Sie wollte sich nicht wie eine Bittstellerin fühlen, wenn sie sich einmal erlaubte, etwas zu unternehmen. Vor allem nicht, wenn er nichts mit ihr unternehmen wollte. Wenn er es liebte, zu Hause zu sitzen, bitte. Deswegen musste sie das nicht tun.
Für die eigenen Bedürfnisse einstehen
„Wenn du möchtest, dass jemand etwas ändert, musst du es ihm sagen“, hatte Karsten, Monikas Meditationslehrer gesagt. Nicht subtil, keine bloßen Andeutungen nach dem Motto: Ich habe meine Stirn in Falten gelegt, da hätte er doch merken müssen, dass ich gerne öfter ausgehen möchte. So etwas würde nie zum gewünschten Erfolg führen.
Bei solcherlei Andeutungen zu erwarten, dass das Gegenüber verstehen würde, was man wollte und sein Verhalten entsprechend anpassen würde, war, wie zu verlangen, dass Meteorologen ihre Vorhersagen allein am Flug der Schmetterlinge ableiteten.
Wenn sie wollte, dass Holger etwas änderte, musste sie direkt sein. Klar und direkt. Nicht viele Worte, keine Ausschweifungen, Erklärungen oder Relativierungen. Eine klare Aussage, positiv formuliert, kurz und prägnant. Kommunizieren wie Schwarzenegger als Terminator. „I’ll be back“ – jeder wusste, was Sache war. So würde sie es machen.
Auf dem Nachhauseweg rief sie Cornelia an. Erst beim achten Klingeln hob sie ab und brummte ein „Mmmhh“ ins Telefon. Nachdem sie Monika ein wenig hatte schmoren lassen und ihre Entschuldigung erst nach der vierten Wiederholung annahm, sagte sie: „Ich hatte dir schon verziehen, als ich drei Minuten im Auto war. Ich kann dich ja verstehen. Und ich bin froh, dass du Holger nicht verlassen möchtest. Aber: Er muss sich ändern. Gib nicht klein bei, Süße, hörst du?“
„Das werde ich nicht, keinesfalls!“, hatte Monika geantwortet.
Monika fordert ein Gespräch
Um ihren Standpunkt deutlich zu machen, hatte sich Monika mit Cornelia gleich in der darauffolgenden Woche wieder verabredet. Und diesen Abend würde sie sich nicht vermiesen lassen.
Als sie nach Hause kam, schliefen die Kinder bereits. Wie in einem Stollen brannte nur dort Licht, wo gearbeitet wurde und dort würde sie ihren Grottenolm finden.
Monika öffnete die Tür. Holger sagte tonlos: „Hi“, wobei der den Blick so starr auf den Roboter vor sich geheftet hielt, wie ein Zwölfjähriger auf eine entblößte Frauenbrust.
Monika spürte, wie kleine Wölkchen in ihr anwuchsen, wie sie sich verfinsterten, aneinanderstießen, sich elektrisch aufluden. Mit einem tiefen Atemzug sorgte sie für klaren Himmel und sagte so deutlich wie ein Verkehrspolizist Führerschein und Fahrzeugpapiere fordert:
„Ich muss mit dir reden. Jetzt!“
Holger drehte sich zu ihr um, schob mit der linken Hand seine Brille zurecht und sagte:
„Okay, was ist?“
„Nicht hier. Oben.“
„Okay, ich komme gleich.“
„Nein, jetzt!“
Holgers Gesichtsausdruck glich dem, wenn man beim Fahren bemerkt, dass ein überholendes Auto auf der eigenen Spur entgegenkommt. Er nickte stumm, schaltete die Basteltischlampe aus und folgte Monika nach oben.
Schwankt Monika?
Monika nahm am Esstisch Platz, zeigte stumm mit der Hand auf Holgers Stuhl. Er setzte sich, sah sie unsicher an wie ein Schulkind den Lehrer vor dem Ausfragen.
Monika holte tief Luft. Sie spürte ihr Herz schlagen, sie konnte fühlen, wie sich ihr Puls beschleunigte.
„Holger, so können wir nicht weitermachen“, sagte sie schroffer als beabsichtigt. Sie wollte doch klar, aber liebevoll sprechen. Nicht angreifen, keine Aggression. Sie umgriff ihre linke Hand mit der rechten.
„Was meinst du?“, fragte Holger.
„Ich meine“, begann sie, stockte dann aber. Sie hatte noch nie klar ausgesprochen, was sie wirklich wollte. Sie wollte Holger doch nicht verletzen. Auch in der Schule war sie darauf bedacht gewesen, zu gefallen, nicht aufzufallen, auf die Lehrer zu hören. Auch später in der Berufsschule, in der Kanzlei sowieso. So war sie erzogen worden. Man musste sich anpassen, Regeln und Gesetze befolgen, auf Eltern, Lehrer und Vorgesetzte hören. Wo käme man sonst hin? Was würden die Leute sagen? Das hatten ihr ihre Eltern beigebracht. Vor allem als Mädchen musste man das. Für Mädchen schickte es sich nicht, Widerspruch zu leisten, Wünsche zu haben, Forderungen zu stellen. So hatte sie ihr Leben gelebt. Bis jetzt. Bis zum heutigen Abend. Bis zu dem Abend, an dem ihre beste Freundin sie allein hatte sitzen lassen in der Bar, weil sie sich den aufgestauten Frust, den Monika wie eine Flutwelle über sie ergossen hatte, nicht mehr antun wollte.
Monika bleibt standhaft bei ihren Bedürfnissen
Dies war der Punkt, an dem Monika wusste, dass sie etwas ändern musste, um nicht selbst unterzugehen, um nicht selbst mitgerissen zu werden vom Sturzbach der Zurückhaltung und der Anpassung. Sie war kein Mädchen mehr. Sie war eine Frau. Sie lebte nicht im 18. Jahrhundert. Sie hatte ein Recht, ihre Gefühle auszudrücken. Sie hatte ein Recht, Wünsche zu haben. Sie hatte ein Recht, Forderungen zu stellen.
„Ich möchte nicht jeden Abend zu Hause sitzen. Vor allem nicht allein, wenn du in deinem Bastelkeller verschwindest.“
„Okay“, sagte Holger, aber er schien nicht recht zu verstehen, was sie meinte.
In Monikas Kopf tauchte Karstens stimme wieder auf. Sie sollte positiv formulieren, was sie wollte. Nicht sagen, was sie nicht wollte, sondern klar sagen, was sie wollte.
„Ich möchte ausgehen. Ich möchte am Abend etwas unternehmen. Wenn nicht mit dir, dann mit Cornelia. Oder jemand anderem. Oder allein.“
„Aber, du warst doch heute…“ Holger konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.
„Ja genau, ich war heute“, schnauzte Monika Holger an. „Entschuldige, ich wollte nicht so schroff sein. Das ist der Grund, warum ich mit dir reden möchte. Ich war heute mit Cornelia aus. Aber anstatt, dass wir uns nett unterhalten hätten, habe ich ihr nur vorgejammert, wie du mir den Abend vermiest hast, seit ich dir gesagt habe, dass ich etwas mit ihr unternehmen möchte.“
„Das war doch nicht so gemeint.“
„Lass mich bitte aussprechen“, sagte Monika. Holger nickte. „Egal, wie du es gemeint hast, aber du hast immer wieder gesagt, wie schlimm es ist, wenn ich dich mit den Kindern allein lasse. Ich hatte mich so gefreut, aber jeder dieser Sätze hat meine Freude Stück für Stück in Ärger verwandelt.“
Der Olm kriecht aus der Grotte
„Aber es ist doch okay, wenn du ausgehen möchtest.“
„Dann zeig mir das bitte auch. Unterstütze mich. Wünsch mir einen schönen Abend und gib mir das Gefühl, dass zu Hause alles gut ist und ich ruhigen Gewissens den Abend genießen kann.“
„Das ist es doch auch. Die Kinder sind doch schon groß. Die brauche mich doch kaum. Bitte entschuldige, dass ich dir den Abend vermiest habe. Das wollte ich nicht. In Zukunft werde ich dich unterstützen, wenn du etwas unternehmen möchtest!“
Monika sah Holger an, konnte ihn durch den Tränenschleier in ihren Augen aber nur unklar erkennen.
„Wirklich?“, fragte Monika lächelnd, während sie sich die Tränen aus den Augen wischte.
„Natürlich“, sagte Holger. „Ich liebe dich!“
„Ich liebe dich auch!“ Holger beugte sich vor und küsste seine Frau. Sie umarmten sich innig, wie sie es seit Monaten nicht mehr getan hatten.
Als sie Holger von der erneuten Verabredung mit Cornelia erzählte, antwortete dieser nur:
„Klar, kein Problem. Ich pass auf die Kinder auf.“
Als sie sich auf den Weg machte, begleitete er sie zur Tür, umarmte sie, küsste sie.
„Ich wünsche dir viel Spaß! Richte Cornelia schöne Grüße aus. Und mach dir keine Gedanken über zu Hause. Wir haben das alles im Griff.“
Monika lächelte ihn an, küsste ihn erneut und sagte: „Danke!“
Als sie die drei Stufen vor der Haustür nach unten gestiegen war, rief Holger:
„Das nächste Mal gehe ich mit dir Essen!“
Sein Lächeln erinnerte Monika an damals, als sie sich ineinander verliebt hatte. Sie lächelte zurück, winkte noch einmal und ging.
„Schön, dass wir mal wieder etwas zu zweit machen“, sagte Cornelia, als sie sich trafen.
„Hatten wir doch erst“, sagte Monika und zog fragend die Augenbrauen zusammen.
„Nein, da war nur so ein gruseliger Troll da, der alles mies machte.“
Monika schlug ihrer Freundin lachend auf die Schulter.
„Lass uns einen schönen Abend haben!“
Abonniere meine Selbstliebe-Impulse und erhalte sofort das kostenlose eBook 5×5 Tipps für deinen Start in eine gesunde Zukunft!