„Ist der Duft des Waldes nicht herrlich?“, fragte Monika.

„Duft des Waldes? Riecht wie frische Straßenmarkierungen“, sagte Florian.

„So ist dein Kopf verschaltet? Das erklärt einiges!“, sagte Holger.

„Was soll das jetzt heißen?“, fragte Florian.

„Hört auf zu streiten“, sagte Monika.

„Müssen wir wirklich den ganzen Weg hochlaufen? Wir können doch mit der Seilbahn fahren“, sagte Sophie.

„Wir sind zum Wandern hier“, sagte Monika.

„Aber du hast doch die ganze Zeit vom Blick über die Berggipfel geschwärmt. Den besten Blick haben wir von oben“, sagte Sophie.

„Ja, aber den kann man noch mehr genießen, wenn man ihn sich durch den Aufstieg verdient“, sagte Monika.

„Die Aussicht ist doch die gleiche“, sagte Florian.

Monika atmete einmal tief ein und aus. „Ja, aber der Weg soll einer der schönsten überhaupt sein.“

Schönheit liegt im Auge des Betrachters

„Was soll da schön sein? Die Steine?“, fragte Florian.

„Zum Beispiel“, sagte Monika. „Jetzt lasst uns gehen!“

Monika nahm ihren Rucksack aus dem Kofferraum, schwang ihn sich auf den Rücken und marschierte davon. Holger schloss den Kofferraum, sperrte das Auto ab und folgte ihr. Florian und Sophie taten es ihm gleich.

Der Alltagsstress bleibt im Tal

Der Fahrzeuglärm von der Hauptstraße wich bald dem Plätschern eines Gebirgsbaches, das klang, als freuten sich die Wasserkinder in der Frühlingssonne über die Steine zu hüpfen. Blüten und Blumen schwängerten die Warme Luft mit ihren verführerischen Düften. Monika spürte, wie mit ihnen die Entspannung in ihren Körper zog, sich dort einnistete wie die Bergpieper und Ringdrosseln über ihnen in den Bäumen.

Das Glück der Schönheit in ihr war gerade dabei aufzutauen, wie die höher gelegenen Berghänge, als es von Sophie wie von einer bösen Eisprinzessin mit mehr Frost überzogen wurde als die Alpen zur Eiszeit.

„Das ist so öde hier! Ich hab keine Lust mehr“, sagte sie und blieb stehen.

Monika drehte sich um, schluckte ihren Ärger hinunter, was ihr zum größten Teil gelang und sagte: „Was heißt hier öde? Du musst nur die Augen aufmachen, dann entdeckst du, wie schön es hier ist.“

„Wow, Bäume und Steine“, sagte Sophie und warf mit theatralisch aufgerissenen Augen den Kopf nach links und rechts.

„Bäume und Steine? Wusstest du, dass jeder Baum ein Biotop ist, in dem tausende Insekten wohnen?“

„Wusstest du, dass ich alles hasse, was krabbelt?“

„Aber die Vögel mit ihren leuchtenden Gefiedern sind doch herrlich.“

„Vögel sind voll horror. Die haben alle Psychoaugen.“

„Gut, dann genieß einfach die frische Luft.“

„Die Luft im Einkaufscenter wäre mir jetzt lieber.“

Monika schnaubte. „Je schneller wir oben sind, desto schneller bist du auch wieder unten. Also: Lass uns weitergehen.“

„Oh Mann!“, sagte Sophie und schlurfte weiter.

Sonne – schön und ganz schön heiß

Langsam wurden die Bäume weniger, der Wald wich Wiesen und Geröllfeldern. Die Sonne stand an einem wolkenlosen Himmel über ihnen.

„Gott, ist das heiß“, sagte Florian. „Ich halt’s nicht mehr aus.“

„Trink was“, sagte Monika.

„Was denn?“

„Na, Wasser. Ich hab auch noch Schorle.“

„Wäähh. Ich will Spezi.“

„Du mit deinem Zeug. Du solltest auch mal mehr auf deine Gesundheit achten.“

„Ja, Ma.“

„Nein, ich mein wirklich. Du sitzt nur noch vor der Konsole und trinkst Spezi. Früher bist du noch mit deinen Freunden Rad gefahren.“

„Ja, da waren wir acht.“

„Ich glaube nicht, dass du es verlernt hast.“

„Ha, ha. Trotzdem, kein Bock.“

Monika verdrehte die Augen. „Wir sind doch gleich oben. Und dann bekommst du dein Spezi.“

Anstrengung wird belohnt mit Schönheit

„Ja, gleich. Schau doch mal hoch, wie weit es noch zum Gipfel ist. Wir haben noch nicht mal die Hälfte.“

„Ach, das täuscht am Berg.“

„Naja, genau genommen“, sagte Holger im Ton eines Verwaltungsbeamten, „hat er Recht. Laut meinem GPS haben wir erst 47 Prozent der Höhenmeter und 44 Prozent der Strecke geschafft.“

Monika sah ihn mit dem Blick an, mit dem man einen jungen Hund ansieht, der einen Haufen in die Ecke des Wohnzimmers gesetzt hat und schwanzwedelnd sein Werk präsentiert. „Sehr hilfreich“, sagte sie.

„Aber die Sonne ist wirklich heiß“, schaltete sich nun auch Sophie ein.

„Seid doch froh, dass endlich wieder etwas Sonne da ist. Jetzt lasst uns weitergehen.“, sagte Monika und machte drei energische Schritte, die kleine Kieselsteine wie Wasser zu Seite spritzen ließen. Dann drehte sie sich nochmal um. „Und ich will nichts mehr hören, bis wir oben sind!“ Dabei blickte sie ihre Familie an, wie ein wildes Tier, das sein Revier verteidigt.

Druck im Kessel

Schweigend und mit Sicherheitsabstand trotteten Sophie, Florian und Holger Monika hinterher, die wie eine Dampflokomotive voranstampfte. Trotz des starken Vortriebs nahm der Dampf in Monikas Kessel nicht ab. Das Feuer darunter wurde durch den Sturm ihrer Gedanken immer weiter angeheizt.

Wieso können sie mir nicht einmal etwas gönnen? Ich mache alles für sie, ganz gleich, ob es mich interessiert oder nicht. Glaubt Sophie, mir gefällt es, ihr zuzusehen, wie sie mit einem Pferd im Kreis läuft? Glaubt Florian, ich habe irgendeinen Spaß dabei, einer Horde Pubertierender dabei zuzusehen, wie sie schimpfend um einen Ball kämpfen? Glaubt Holger für mich gäbe es auf seinen Robotermessen auch nur ein spannendes Ding zu sehen? Das kann doch nicht ihr Ernst sein! Aber natürlich gehe ich mit ihnen hin. Mit jedem von ihnen. Weil ich Zeit mit ihnen verbringen will. Es geht doch darum, die Freude des anderen zu teilen. Warum können sie nicht einmal meine Freude teilen? Ich stecke immer zurück, kümmere mich immer darum, dass keiner von ihnen zu kurz kommt. Das geht doch überhaupt nur, weil ich auf das verzichte, was ich möchte.

Jetzt ist einmal ein Wochenende, an dem keiner von ihnen irgendwo eine superwichtige Veranstaltung hat, an dem wir das tun können, was ich mir wünsche, und dann sind sie nur am Meckern. Es ist heiß. Ich kann nicht mehr. Ich habe Durst. Ich brauch eine Pause. Genau genommen, haben wir noch nicht die Hälfte. Pah! Genau genommen braucht man keine Pause nach zehn Minuten. Genau genommen muss man nicht alle paar Schritte etwas trinken. Genua genommen will ich es nicht genau nehmen. Ich will einfach nur einen schönen Tag in den Bergen! Ist das denn zu viel verlangt?

Am Ziel der schöne Ausblick vom Gipfel

Ob tatsächlich keiner der drei mehr etwas gesagt hatte, was Monikas inneren Sturm zu einem ausgewachsenen Orkan verwandelt hätte, oder ob sie es nicht gehört hatte, weil sie sich im Auge dieses Sturms befand, konnte sie nicht sagen, als sie nach knapp anderthalb Stunden in voller Fahrt das Gipfelplateau erreichte. Neben einer Hütte im typischen Stil der Berge, lag eine weite, von scharfkantigen Felsbrocken durchzogene Grasfläche. Dahinter ragte eine gut zwanzig Meter hohe Felsspitze auf, an deren obersten Punkt eine Gipfelkreuz die Arme stolz in die Gegend reckte.

Das Ziel vor Augen

Ein Lächeln setzte sich auf Monikas Lippen und ließ Glücksgefühle in ihre Kehle fließen. Gleich hätten sie einen Wahnsinnsblick ins gesamte Umland, in die endlos scheinenden Weiten des Alpenvorlands, dessen hektischer Alltag hier oben so weit entfernt schien wie der Mars, und auf der anderen Seite auf den Alpenhauptkamm, der schon die allerersten Menschen, die sich in diese Höhen vorwagten, in Ehrfurcht versetzt hatte. Sie konnte schon die Kraft des Gipfels spüren, das Gefühl, Eins zu sein mit der Natur.

„Kaiserschmarrn!“, sagte Holger, mit Blick auf die Schiefertafel an der Hüttenwand. „Und dazu ein kühles Bier. Das brauche ich jetzt.“

„Ich will eine Currywurst und ein Spezi“, stimmte Florian ein.

„Kann ich auch ein Spezi?“, fragte Sophie.

Die Glücksgefühle mussten in Monikas Kehle den falschen Weg gewählt haben und statt im Herzen direkt im Magen gelandet sein, wo sie sich in der überschäumenden Säure schneller auflösten als ein Schneeball in kochendem Wasser.

„Nein, nein, nein! Statt noch die paar Meter bis zum Gipfel zu laufen wollt ihr euch gleich hier vollschlagen?“, fragte Monika.

„Wir sind jetzt anderthalb Stunden durchgelaufen. Da haben wir uns doch eine Pause verdient“, sagte Holger.

„Pause können wir doch am Gipfel machen“, sagte Monika.

„Aber da gibt es nichts zu essen“, sagte Florian.

„Wir haben genug dabei. Und auf ein Getränk einkehren können wir danach immer noch, bevor wir wieder runterlaufen“, sagte Monika.

„Ich will aber eine Currywurst und keine Gemüsesticks“, sagte Florian.

„Und ich die vegane Bowl“, sagte Sophie.

„Und eigentlich“, setzte Holger an, wobei er den Blick neben Monika auf den Boden richtete und sich am Kopf kratzte, „wollten wir nicht mehr runterlaufen. Wir wollten mit der Seilbahn fahren. Dann wäre genug Zeit hier zu essen.“

„Und ein zweites Spezi“, warf Florian ein.

Monika ballte die Hände zu Fäusten und stampfte wütende mit dem Fuß auf. „Ach, tut doch was ihr wollt. Ich gehe jetzt zum Gipfelkreuz und dann über den anderen Weg runter, der noch schöner sein soll. Alleine! Viel Spaß auf eurer doofen Hütte!“

Sie wollte schreien, nahm sich aber zusammen, weil viele Wanderer auf dem Plateau waren. Nur ein Knurren, das Passanten im Wald zu Notrufen veranlasst hätte, weil sie dächten einen Bären gehört haben, drang aus ihrer Kehle. Sie ging alleine weiter.

Am Ziel und doch nicht da

Wenige Minuten später erreichte sie am Gipfelkreuz den Höhepunkt ihrer Wanderung, ihre Stimmung hatte es aber noch nicht wieder nach oben geschafft, sondern hing noch in der dunkelsten Ecke eines Bergwerks.

Das ewige Eis der Dreitausender glänzt zum Greifen nah im Sonnenlicht und die Familie stopft lieber ebenso überteuertes wie ungesundes Essen in sich hinein. Wie kann man nur so wenig für die Welt übrighaben?

Nach ein paar mechanisch geschossenen Fotos in alle Richtungen und einem Selfie mit einem Lächeln, das aussah, als hätten Entführer ihr Opfer gezwungen glücklich auszusehen, als Beweis, dass es ihm gut geht, stieg Monika die Felsen wieder hinab und machte sich auf den Weg ins Tal. Die Hütte würdigte sie keines Blickes. Wehe, die lassen mich am Auto warten.

Oberhalb der Bäume hätte nichts ihren Blick in die Weite des Voralpenlandes gestört, das wie eine grün-blau-braune Patchworkdecke von Mutter Natur vor ihr lag. Doch ihr Trübsal zog ihren Blick zu Boden wie die Gewichte einen Heißluftballon, sodass sie die Decke nicht sehen und Mutter Naturs liebende Güte nicht fühlen konnte.

Augen offen und trotzdem blind

Wut und Ärger machen Sie blind

In Monikas Kopf tanzten Wut und Unzufriedenheit ringelrein. Ihre gesamte Wahrnehmung war auf ihr Denken gerichtet, auf das, was sie alles für die Familie tat und auf das, was ihre Familie tat, anstatt etwas für sie zu tun. So lief sie wie ferngesteuert Schritt für Schritt den Berg hinab. Nicht einmal als der Fernblick vom Wald abgelöst wurde, konnte die Umgebung ihre Aufmerksamkeit erregen.

Als sie gut die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, kam sie an einen Bergsee, an den die Menschen mit Ausnahme des Weges, der in etwa 30 Metern Entfernung an ihm vorbeiführte, nie Hand angelegt hatten. So wie die Kräfte des Eises die Kuhle vor Jahrtausenden geschaffen und die Überreste des Eises als türkisglänzendes Wasser einen See darin gebildet hatten, lag er seit dem Ende der Eiszeit da. Auch Monika ließ ihn unberührt. Von ihren Händen, ihren Augen, ihrem Bewusstsein. Sie ließ den See einfach neben sich vorüberziehen. Genauso ließ sie die frischen Knospen der Bäume, die leuchtend weißen Blütenkelche der Maiglöckchen, den schwarzen Glanz des Alpensalamanders und die majestätischen Kreise des Steinadlers an sich vorbeziehen ließ, während sie wie ein Höhlentroll in Richtung Tal trottete.

Als sie wenig später an eine Weggabelung kam, überließ ihr Gehirn, das immer noch nur mit sich selbst beschäftigt war, den Füßen die Richtungswahl. So bemerkte Monika nicht, dass der Weg nach einer Weile wieder anstieg. Sie bemerkte auch nicht, dass die Schatten der Gipfel bereits deutlich länger geworden waren. Ebenso wenig bemerkte sie, dass sie nach einer Weile wieder an dem See vorbeilief und kurze Zeit später wieder vor derselben Weggabelung stand. Wieder überließ ihr Gehirn ihren Füßen die Entscheidung und wie Füße nun mal sind, folgten sie dem einfachsten Weg und führten Monika wieder auf den Rundweg, über den sie einige Zeit später wieder zu dem Bergsee kam.

Das Licht zeigt ihr die Schönheit

Die Sonne war so tief gesunken, dass sie Monika zwischen zwei Bäumen hindurch direkt in die Augen schien. Das helle Licht riss Monika aus der Dunkelheit des Selbstmitleids. Um ihre Augen zu schützen, drehte sie sich zur Seite und nahm erstmals, seit sie sich an den Abstieg gemacht hatte, wieder bewusst ihre Umgebung wahr. Die Berghänge leuchteten tiefrot im Licht der untergehenden Sonne, als stünden sie in Flammen, der Gebirgssee hatte sein türkisblaues Kleid abgelegt und funkelte wie flüssiges Gold, die Bäume standen stolz wie beim Zapfenstreich, Rotkehlchen, Uhu und Nachtigall sangen der Sonne zum letzten Geleit.

Die Schönheit des Sonnenuntergangs in den Bergen

Als wachte sie aus einem Traum auf, dauerte es einige Augenblicke, bis Monika die Orientierung wiederfand. Nachdem ihr Bewusstsein den Kontakt zu ihren Sinnesorganen wieder hergestellt hatte, nahm sie alles in sich auf. Das farbenprächtige Spiel der Sonne, den reinen Duft der heraufziehenden Nacht, die zärtlichen Rufe der Vögel. Sie atmete tief ein als könnte sie mit der Luft die gesamte Situation aufsaugen und in den Erinnerungsschrank in ihrem Inneren stellen.

Während sich der Himmel über ihr trübte, klarte sich ihre Stimmung auf. Sie spürte in sich hinein und stieß nur auf ein Gefühl: Glück. Sie empfand reines Glück.

Über das Glück zurück

Wie Werbung im Film tauchte plötzlich das Bild ihrer Familie vor Monikas innerem Auge auf. Oh Gott, die warten bestimmt schon lange. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche. Acht Anrufe in Abwesenheit. Schnell drückte sie auf die Rückruftaste.

„Ah, endlich“, meldete sich Holger ohne Begrüßung. „Bist du schon beim Auto?“

„Äh, nein“, antwortete Monika irritiert.

„Aber du müsstest doch schon lange unten sein.“

„Ja, ich hab mich wohl verlaufen. Ich brauche noch ein paar Minuten.“

„Gut. Ich hatte auch nur angerufen, um dir zu sagen, dass wir schon seit zwei Stunden in der Gondel stecken.

„Geht es euch gut?“

„Ja, alles gut. Gab wohl ein technisches Problem. Jetzt geht es zum Glück endlich weiter. Wir sollten also bald unten sein, wenn nicht wieder was passiert.“

„Papa!“, hörte sie Sophie entrüstet im Hintergrund rufen.

„Ich bin froh, dass euch nichts passiert ist. Wir sehen uns also gleich am Auto.“

„Ja, bis gleich“, sagte Holger und legte auf.

Monika steckte das Smartphone zurück in ihre Tasche und drehte sich noch einmal langsam um sich selbst. Wie hatte sie nur so blind sein können für die Schönheit der Welt?