„Das sollten Sie nicht kaufen“, hörte Monika eine Stimme neben sich, die sie an Saruman in den Herr der Ringe Verfilmungen denken ließ, als sie die Plastikschale, in der auf ein Saugflies drei Schnitzel geschichtet waren, die etwa sechs Monate lang Teil eines Tieres hatten sein dürfen, das nach wenigen Wochen von der Mutter getrennt, um Zähne, Ringelschwanz und Hoden erleichtert in Massentierhaltung bis zum Schlachtgewicht von 120 kg gemästet wurde, um dann in einen LKW gepfercht voll Todesangst durch einen engen, gekachelten Gang getrieben zu werden, an dessen Ende eine Stromzange wartete, die ihm einen hoffentlich betäubenden Schock versetzten (was nicht bei allen Tieren klappte), bevor es an den Hinterläufen aufgehängt, von Händen, die ohne jegliches Zutun des Bewusstseins agierten, da der Mensch hinter den Händen sich längst von dem was er dort tat geistig abgekapselt hatte, um das Messer nicht mit in die Baracke hinter einem verfallenen Bauernhof, in der er mit zwölf anderen Arbeitern wohnte und seine einzige Erinnerung an Zuhause ein vergilbtes Bild seiner Frau und der drei Kinder war, zu nehmen und bei sich selbst anzusetzen, durch einen Stich ins Herz getötet, in heißem Wasser zum Entfernen der Borsten abgebrüht, und anschließend fein säuberlich zerlegt, verpackt und an Discounter verschickt wurde.
Endprodukt der Massentierhaltung
In einem solchen Discounter befand sich Monika in diesem Moment. Und bis zu diesem Moment hatte sie mit der Gewohnheit, mit der man den Weg zur Arbeit zurücklegt, den Einkaufswagen durch die Gänge geschoben und die gleichen Produkte, die sie immer kaufte, aus dem Regal genommen. Nun war ihre roboterhafte Routine durch die Stimme eines Mannes unterbrochen worden, von dem sie nicht hätte sagen können, ob er bereits vorher neben der Kühltheke gestanden, sich von hinten an sie herangeschlichen hatte oder ob er einfach auf einmal im Raum aufgetaucht war wie ein Geist.
Monika machte einen Schritt zur Seite, hielt die Plastikschale mit den Schnitzeln wie einen Zweihandschild vor sich und blickte den Mann an. Nicht nur seine Stimme, auch sein glattes weißes Haar erinnerte Monika an Saruman. Damit endete die Ähnlichkeit mit dem Filmzauberer. Das Gesicht runder und weicher, seine braunen Augen hätten auch die eines Neunjährigen sein können, der sich keine Gelegenheit entgehen ließ, einen Streich zu spielen. Der Mann trug auch keinen weißen Zauberermantel, sondern einen sandfarbenen Leinenanzug, der locker an seinem sehnigen Körper hing.
„Wie bitte?“, fragte Monika.
„Das sollten Sie nicht kaufen“, wiederholte der Mann und zeigte auf die Schnitzelpackung.
„Die kaufe ich immer.“
„Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was für ein Leben die Tiere führen, die Sie da essen?“
Monika blickte auf die Packung in ihrer Hand, wendete sie ein wenig nach links und rechts und schüttelte nur den Kopf. Ihr Kopfschütteln war nicht nur Antwort auf die Frage, sondern mindestens ebenso sehr Verwunderung darüber, von einem wildfremden Mann im Discounter darauf hingewiesen zu werden, was sie kaufen sollte und was nicht.
„Tun Sie das, dann werden sie sich in Zukunft bei ihrem Einkauf anders entscheiden.“
„Ja, vielleicht“, sagte Monika und lächelte verlegen. Sie legte die Schnitzelpackung zurück in die Kühltruhe, nahm eine Packung Steaks heraus, bei denen die Fleischscheiben mit so viel Marinade ummantelt waren, dass eigentlich egal war, was sie umhüllte, und legte sie hastig in den Einkaufswagen, wobei sie die andere Hand über die Verpackung hielt, als könnte sie dadurch vor dem Mann verbergen, was sie in ihren Einkaufswagen legte.
Sie konnte nicht sagen, warum sie die Schnitzel zurückgelegt hatte und auch nicht, warum die Reaktion des Mannes für sie überhaupt von Belang war. Vermutlich war der Tausch der Schnitzel gegen Steaks nicht das gewesen, was der Mann sich mit seinem Satz erhofft hatte. Aber er hatte etwas in Monika ausgelöst.
Monika drehte sich schnell um und ging direkt zur Kasse. Währenddessen blieben ihre Gedanken bei dem Mann an der Kühltheke. Warum hatte er ihr das gesagt? Was wollte er ihr überhaupt sagen? Und was bildete der sich überhaupt ein? Erst als sie die Bankkarte aus ihrem Geldbeutel suchte, sprangen ihr ihre Gedanken hinterher und landeten wieder in ihrem Kopf bei dem, was sie gerade tat.
Tiere sind Lebensmittelwesen
Der Verkehr auf dem Heimweg floss zäh wie Honig. Da das Einzige, worin sich die endlosen Reihenhäuser unterschieden, die weißen Ziffern auf den blauen Tafeln mit der Hausnummer waren, hatte man das Gefühl, überhaupt nicht voranzukommen. Irgendwo zwischen Langeweile, Frust und Ärger fiel Monika ein Graffito ins Auge. Jemand hatte ein feistes, lächelndes Schwein an die Hauswand gesprayt und daneben Tiere sind Lebensmittel geschrieben, dann aber nsmittel durchgestrichen und wesen darübergeschrieben, sodass es nun hieß: Tiere sind Lebewesen. Sofort hatte sie wieder die Stimme des alten Mannes im Ohr.
Das sollten sie nicht kaufen. Erst jetzt schloss sich die Verknüpfung in ihrem Kopf. Vor lauter Überraschung darüber, dass sie während ihres Einkaufs einfach von der Seite angesprochen worden war, hatte sie die Schnitzel nicht mit der Frage, was für ein Leben die Tiere führten, in Zusammenhang gebracht.
Sie war der Alchemie der Modernen Ernährung unterlegen. Man nehme eine klimatisierte Markthalle, eine Kühltruhe und eine Plastikverpackung, hülle das alles um in Form geschnittene Teile eines Tieres, entferne Bauernhof, Schlamm, Exkremente, Blut und Angstschweiß möglichst weit aus dem Blickfeld und fertig war die perfekte Illusion des vollkommen leidlosen Fleischkonsums. So verschwand die Vernichtungsmaschinerie der Massentierhaltung hinter einem Schutzzaun aus Selbstbedienungstheke und Landidyll-Werbeprospekt.
Während es dem Mann im Supermarkt nicht gelungen war, hatte das simple Graffito für einen kurzen Augenblick den Schleier der modernen Konsumwelt von Monikas Augen gezogen und sie die Wahrheit dahinter klar sehen lassen.
Ein paar Sekunden blitzten Bilder von zusammengepferchten Schweinen in ihrer eigenen Scheiße, das verzweifelte Quieken von Ferkeln, die beim Saugen von den Zitzen der Muttersau gerissen werden, der Geschmack vom Eisen des Blutes, das beim Schlachten literweise aus dem aufgeschlitzten Leib strömte, in Monikas Kopf auf. Ein kurzer Moment der Erkenntnis, zu kurz, um sie zu bekehren, da sie selbst den Schleier sofort wieder vorzog, das Radio laut drehte und bewusst etwas anderes denkend nach Hause fuhr.
Das Tier ist schnell bei dir
Zuhause angekommen fiel ihr Blick auf die Uhr, die schon kurz vor sechs zeigte. Zeit zu kochen. Herd an, Pfanne auf Herd, Öl in Pfanne, Steaks aus der Packung, die von Marinade tropfende Plastikhülle mit in den Müll, Steaks in Pfanne, braten lassen. Kartoffelsalatpackung aufmachen – selbst machen dauert viel zu lange –, Kartoffelsalatpackung mit Löffel auf Tisch. Blattsalat und Tomaten waschen, schneiden, ab in die Schüssel. Fertigdressing bereitstellen. Steaks wenden, braten lassen. Kurz nach sechs, Essen fertig. Fröhliche Feierabendküche.
„Essen ist fertig“, rief Monika so laut, dass sie überall im Haus zu hören war. Sie stellte die Pfanne neben dem Kartoffelsalat mit Untersetzter auf den Tisch, goss das Dressing über den Salat, mischte kurz durch, stellte die Schüssel auf den Tisch.
Florian schlurfte in die Küche, setzte sich wortlos an den Tisch, nahm seine Gabel, stach in das größte Steak in der Pfanne und hievte es auf seinen Teller.
„Ketchup!”, sagte er.
„Hallo erstmal, mein Sohn. Schön, dass du da bist. Kannst du bitte auch in ganzen Sätzen sprechen?“, sagte Monika mit einer Stimme als würde man eine 45er Platte mit 33 Umdrehungen abspielen.
„Ich hol’s mir selbst”, nuschelte Florian und stand auf, um zum Kühlschrank zu gehen.
Holger und Sophie kamen auch. Wenige Augenblicke später saß die ganze Familie am Esstisch.
Während Holger und Florian wie ausgehungerte Bären zugriffen, blickte Sophie auf den Tisch als hätte jemand den Inhalt der Biotonne darauf verstreut.
„Stimmt was nicht?“, fragte Monika und seufzte.
„Ich esse kein Fleisch“, antwortete Sophie.
„Das weiß ich“, sagte Monika. „Deswegen habe ich Salat gemacht.“
„Toll, danke Mama. Für mich hast du wieder nur Beilagen.“
„Aber Salat ist doch keine Beilage.“
„Schon mal das Wort Beilagensalat gehört?“
„Ja. Nimm mehr davon, dann ist es eine Hauptspeise.“
Sophie schnaubte und nahm sich jeweils eine große Portion von den beiden Salaten. Dann sagte sie:
„Weißt du was Mama? Hannah hat mir erzählt, dass sie mit ihren Eltern beim Love Earth Festival war. Dort gibt es nur veganes Essen. Da können wir hingehen, dann kannst du sehen, was man alles tolles kochen kann, ohne einem Tier zu schaden.“
Tiere essen oder Tieressen essen
„Eigentlich ist es doch Tierquälerei“, sagte Florian und schluckte noch ein Stück Steak hinunter, bevor er weitersprach, „wenn du den Tieren das Essen weg isst.“ Er grinste stolz, richtete sich auf, als hätte er eine eins in Mathe nach Hause gebracht und wartete nun auf das Lob und Schulterklopfen von Holger. Da sich Stolz und Häufigkeit von dummen Sprüchen und Einsen in Mathe aber umgekehrt proportional zueinander verhielten, wobei die Häufigkeit von Einsen in Mathe bei Florian gegen Null tendierte, wartete er vergebens auf ein Schulterklopfen.
Stattdessen erntete er von Sophie einen Blick, bei dem in einem achtzigerjahre Science-Fiction Film Laserstrahlen aus ihren Augen geschossen wären. Zu Florians Glück waren sie nicht in einem achtzigerjahre Science-Fiction Film.
Bevor der Kampf seine Steigerung in der nächsten Runde erfahren konnte, brach Monika ihn ab:
„Das ist eigentlich eine gute Idee. Ich könnte da wirklich ein paar Anregungen brauchen. Vielleicht finden wir dort auch ein gutes veganes Kochbuch.“
„Wirst du dann auch Veganerin?“, fragte Sophie.
Monika schaute verlegen, als müsste sie ein Aufklärungsgespräch mit ihrer Tochter führen.
„Ich glaube nicht. Aber vielleicht esse ich weniger Fleisch“, sagte sie. Sophie entgegnete nichts, sank aber zusammen, als hätte sie die Puppe, die sie sich mehr als alles andere gewünscht hatte, doch nicht zu Weihnachten bekommen.
Monika nahm ein Stück ihres Steaks in den Mund. Es war zäh wie ungekochte Bambussprossen. Monika hatte das Gefühl, dass sich das Fleisch in ihrem Mund mit jeder Kaubewegung vermehrte. Nach und nach wich das alles übertüchende Paprikaaroma, das an Kochversuche von Jugendlichen erinnerte, die ihre unzureichende Expertise in Sachen Gewürzauswahl mit der doppelten Menge der selbigen zu kompensieren versuchten, dem fahlen Geschmack ausgelaugten Fleisches, das nicht genug Lebenszeit hatte, die Muskeln aus ordentlichen Proteinen aufzubauen und dies mit einer großen Menge Wassereinlagerung kompensierte, die während des Bratens verlorengegangen war und ein Stück Gewebe zurückließ, bei dem selbst herstellerseitig die einzige Hoffnung war, dass es verzehrt werden würde, bevor die Verwesung so weit fortgeschritten war, dass es gesundheitlich für denjenigen, der sich die tierischen Überreste einverleibte, ebenfalls bedenklich wurde hinsichtlich eines vorzeitigen Ablebens. Monika trank einen Schluck Wasser, um den fasrigen Batzen in ihrem Mund hinunterschlucken zu können.
„Wollen die beiden Herren uns begleiten?“, fragte sie.
„Nope, ich muss leider zum Fußball. Sonst würde ich natürlich gerne mitkommen.“, sagte Florian.
„Ja, natürlich“, sagte Monika und blickte Holger erwartungsvoll an.
„Gibt es da Roboter?“, fragte dieser.
„Ach, Holger“, sagte Monika.
„Schon gut, Mami“, sagte Sophie, „zu zweit können wir viel mehr probieren.“
„Ja, genau“, sagte Monika zustimmend und zwang ihr Gesicht zum Lächeln. Dass sie gedacht hatte, sie könnte Anregungen holen, was sie für Sophie kochen könnte und selbst Tiere essen, statt deren Essen, wie Florian es ausgedrückt hatte, sagte sie nicht.
Sie sah Stände voll unangemachten Salates vor sich, krumme Karotten, schrumpelige Paprika, spürte steinharten Buchweizen zwischen ihren Zähnen stecken, Grünkernbratlinge, die staubten, wenn man hineinbiss und gegen die ein Schluck Wasser ein wahres Geschmackserlebnis bereithielt.
Oh Gott, worauf habe ich mich da eingelassen?
Monika blickte auf ihr Steak. Zumindest heute noch ordentliches Essen! Sie spießte die Gabel in das Fleisch, sägte ein ordentlich großes Stück herunter, steckte es in den Mund und kaute voll Vorfreude auf den herrlichen Umamigeschmack eines guten Tieres, der jedoch jäh enttäusch wurde, als wieder die viel zu scharfe Marinade einer Mischung aus Eisen, Schweinestall und Verwesung wich.
Vielleicht ist Tieressen doch keine so schlechte Alternative.
Massentierhaltung live erleben
Am nächsten Morgen fuhren Sophie und Monika mit ihren Fahrrädern zum Love Earth Festival. Ein Plakat an einer Staßenlaterne mit dem markanten Love Earth-Logo, das unseren blauen Planeten als Herz geformt darstellte, zog Monikas Aufmerksamkeit auf sich. Darauf war auf der einen Seite ein Schwein, auf der anderen ein Hund zu sehen, die beide mit den traurigen Augen eines Kindes, das ein Spielzeug nicht bekommt, in Richtung des Betrachters blickten. Friend or Food? stand dazwischen. So hatte sie Tiere noch nie betrachtet.
Wie kommt es, dass wir manche Tiere in Ställe sperren, mästen, schlachten, zerstückeln und essen, während wir andere Tiere zum Teil besser behandeln als unsere Kinder? Sie fand keine sinnvoll Antwort darauf.
Am Ortsende zweigte sich die Ausfallstraße in zwei kleinere Straßen, breit genug für landwirtschaftlichen Verkehr, zu eng für Gegenverkehr. Auf der einen Seite waren riesige Stallanlage zu erkennen, auf der anderen nichts als Felder. Welche Richtung sollten sie einschlagen? Nirgendwo war ein Hinweisschild zu sehen.
Monika sah auf die Höfe der Großbauern mit ihren Hühner-, Kuh- und Schweineställen, die mehr mit einem Industriegebiet als mit dem Bild von Landleben zu tun hatten, das noch in den Köpfen der meisten Menschen verankert war.
Unschlüssig rollte sie ein paar Meter in Richtung der Felder, als ihr ein Mann mit langen grauen Haaren in einem lockeren Leinenanzug entgegenkam.
„Sie sind auf dem richtigen Weg“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln und nickte ihr dabei höflich zu.
„Gut, danke!“ rief Monika und begann wieder fester in die Pedale zu treten.
„Nett von dem Mann, dass er uns geholfen hat“, sagte Sophie.
„Ja“, stimmte Monika zu.
War das nicht der Mann aus dem Supermarkt? Woher wusste er wohin sie wollten? Und wo war er eigentlich auf einmal hergekommen?
Nachdem sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, fuhren sie in gemächlichem Tempo auf einer schmalen Straße zwischen den Feldern. Grün leuchtende Zucchini lugten prall unter ihren ausladenden Blättern hervor, Zwiebeln verströmten ihr markantes süßlich scharfes Aroma, die Maispflanzen standen übermannsgroß still neben der Straße wie Armeetruppen, untergeackerte Erdbeerpflanzen weckten Sehnsucht nach dem zu Ende gehenden Sommer, während kleine, unreife Kürbisse Vorfreude auf den nahenden Herbst machten. Die Farbe der Landschaft wechselte allmählich vom lebendigen Grün zu einem Orangerot, das strahlte, als wollte es noch das bisschen gespeicherte Wärme an seine Umgebung abgeben, bevor es von brauner Kargheit und kaltem Eisblau abgelöst werden würde.
Wie eine Trabantenstadt bauten sich vor ihnen die Zelte des Festivals auf. Vor dem Eingang gab es einen Fahrradparkplatz.
„Hoffentlich finden wir unsere Räder wieder“, sagte Sophie und zeigte auf die vielen hundert, die bereits abgestellt waren.
„Denke schon“, sagte Monika und wunderte sich, dass nirgendwo ein Auto zu sehen war. Ökos halt.
Als sie in Richtung Eingang gingen, kamen sie an einer Programmtafel vorbei, wobei es sich eigentlich nicht um eine Programmtafel handelte, sondern um eine Stalltür. 100% recycelte Stalltür, gestiftet von unseren mutigen Helden der Organisation Freiheit für alle Tiere war ganz unten zu lesen. Am oberen Ende prangte wieder das Logo, darunter war das Motto des diesjährigen Festivals gedruckt: Massentierhaltung Live erleben – Erfahre, wie es Tieren wirklich geht.
Massentierhaltung bedeutet Massenpharmazie
Monika schluckte, als sie sich die einzelnen Programmpunkte anschaute. Klanginstallationen aus Hühnerställen, Vorträge zum Thema Massentierhaltung und Klima, begehbare Ställe, Stallüberwachungsvideos, eine Skulptur aus Medikamenten einer industriellen Hühnerzucht und Virtual Reality Massentierhaltungserlebnis waren darunter. Klingt nicht gerade nach Spaß, dachte sie spürte, wie Sophie sie an der Hand packte und mit sich auf das Festivalgelände zog.
„Wow, Mama, schau dir das an!“, rief Sophie und zeigte aufgeregt auf ein über zwei Meter großes Huhn, das aus hunderttausenden kleinen Tabletten und Fläschchen bestand. Massentierhaltung = Massenpharmazie. Wochenverbrauch einer Hühnerzucht mit 100.000 Hühnern stand auf einem Schild, das an dem Huhn angebracht war. Und sowas essen wir mindestens einmal in der Woche? Monika wurde schlecht.
„Wahrscheinlich verdient die Pharmaindustrie mehr mit Massentierhaltung als die Bauern“, sagte Monika.
„Ich verstehe nicht, warum die Leute so scharf darauf sind, das zu essen!“, sagte Sophie.
„Lass uns weitergehen“, sagte Monika.
„Da, das Zelt sieht interessant aus“, sagte Sophie und zeigte auf ein beigefarbenes Zelt, das etwa fünf auf zehn Meter maß.
Hinter dem Zelteingang wurden sie von einer jungen Frau mit aschblondem Zopf, dem dunkelblauen Love Earth-Festival T-Shirt, einer Wollhose in verschiedenen Grüntönen und Trekkingschuhen mit einem freundlichen Lächeln begrüßt.
„Herzlich willkommen im Hühnerstall“, sagte die Frau.
„Einen Hühnerstall habe ich mir immer andres vorgestellt“, sagte Monika und zeigte auf die glatten schwarzen Kästen, die ringsum in dem Zelt aufgestellt waren. Jede davon gut zwei Meter hoch und etwa einen Quadratmeter in der Fläche.
Die Frau nickte zustimmend und sagte:
„Das ist richtig. Es ist immer so schwierig, die Besucher aus den Käfigen der Legehennen wieder zu befreien.“ Sie machte eine kurze Pause für Lacher. Monika lachte eher höflich, da sie nicht ganz verstanden, was daran witzig war.
„Hier geht es nicht um den Käfig an sich, sondern um den Klang im Inneren einer Legehalle. Wir haben Mikrophone in einer solchen installiert. Die Ergebnisse könnt ihr euch in diesen Kammern anhören. Ihr könnt so lange drinbleiben, wie ihr wollt. Oder besser: Ihr könnt jederzeit raus, wenn es euch zu viel wird.“
Der Klang der Legebatterie
„Das müssen wir ausprobieren, Mama“, sagte Sophie. Monika nickte nur.
Zögernd ging sie auf eine der Kabinen zu, öffnete die Tür. Im Inneren war es wie in einer Dunkelkammer.
„Kein Licht?“, fragte sie die junge Frau.
„Nein, es geht darum, sich ganz auf das Hören zu konzentrieren.“
„Okay“, sagte Monika, ging hinein und schloss die Tür. Etwa zwei Sekunden blieb es still, bis sie das Boag eines Huhns hörte. Boag, boag, boag folgte, dazwischen war ein scharrendes Geräusch zu hören, das Monika an das Unkrautentfernen zwischen den Pflastersteinen in der Einfahrt erinnerte. Das Scharren wurde immer lauter, überall um sich herum hörte Monika Kratzgeräusche. Das Kratzen war direkt neben ihr, vor ihr, hinter ihr.
Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Boag, hörte sie wieder. Boag, boag, boag. Es folgte ein knarrendes Geräusch, das wie das langsame Öffnen einer Holztür in einem Horrorfilm klang.
Nun war es nicht mehr ein Huhn, sondern immer mehr stimmten in das Boag ein. Es hörte sich an wie ein Chor, in dem jeder sein eigenes Lied singt.
Die Kakophonie aus Boag, Scharren und Knarren wurde ergänzt durch ein schnelle Tztztztz. Die Geräusche kamen aus allen Richtungen wild durcheinander. Tztztztz vor ihr und links, Knarren hinten und vorne, Boag links und rechts, dann wieder vorne hinten, sogar von oben und unten schienen die Geräusche zu kommen. Das Scharren war ringsum zu hören.
Es gab keine Pause. Ununterbrochen waren die Geräusche da. Allgegenwärtig. Es fühlte sich an, als würde Monikas Körper durch die Schallwellen der Hühnergeräusche in Schwingungen versetzt. Die Schwingungen waren nicht entspannend wie das sanfte auf und ab der Wellen, wenn man auf einer Luftmatratze im Meer treibt, sondern durcheinander wie die wildesten Stücke von John Cage. Irgendwie passend im Käfig. Die Laute der Hühner drangen in die Zellen ein, drückten und zerrten in alle Richtungen.
Monika hatte das Gefühl, sie würde gleichzeitig ganz eng in eine große Wolldecke gewickelt und von tausenden winzigen Haken auseinandergezogen. Ihre Atmung wurde schneller, ihr Puls kam in die Abbruchregion eines Belastungs-EKGs, sie spürte das Pulsieren ihres Blutes in allen großen Gefäßen, in den Beinen, den Armen, am Hals. Selbst ihr Gehirn schien zu pulsieren. Ihre Atmung beschleunigte sich weiter. Sie begann zu hecheln. Die eingeatmete Luft gelangte nicht mehr in die Lunge, wurde sofort wieder ausgeatmet.
Der Raum begann sich zu drehen. Monika musste sich an den Wänden abstützen. Der Raum drehte sich schneller. Lichtblitze tauchten vor ihren Augen auf. Gelb, rot, blau.
Raus. Ich muss hier raus. Nur raus. Monika drehte sich um. Suchte nach dem Türgriff. Fand ihn nicht. Hilfe! Nur noch Farbblitze vor den Augen. Kein Oben und Unten mehr. Nur Rotation im Raum.
Dann ging die Tür auf und das Tageslicht fiel in die Box. Schlagartig landete Monika wieder auf den Füßen und stolperte hinaus, direkt in die Arme der jungen Frau.
Haltung im Massenstall nicht das einzige Problem
„Geht es Ihnen gut?“, fragte diese.
„Ja, danke, geht schon. Mir war nur ein wenig schwindlig“, antwortete Monika.
„Eindrucksvoll, was allein die Töne aus einem Massenstall für Hühner bewirken können, nicht wahr?“
„Allerdings“, sagte Monika, die noch immer nach Atem rang.
„Stell dir mal vor, wie es den armen Hühnern geht, die das den ganzen Tag aushalten müssen“, sagte Sophie.
„Ihr ganzes Leben!“, sagte die junge Frau.
„Das will ich mir gar nicht vorstellen“, sagte Monika.
„Die Tiere haben leider keine andere Wahl, solange die Menschen Eier wollen“, sagte die junge Frau.
„Aber es gibt doch auch Freilandhaltung“, saget Monika.
„Ja, aber wie viele Eier können so produziert werden? Es sind ja nicht nur die Eier, die sie noch mit Schale kaufen. Die meisten Eier gehen in die Industrie und landen in abgepackten Kuchen, Nudeln oder Fertiggerichten. Dann wäre ein großer Teil Deutschlands Hühnergehege. Außerdem wären die Hühner immer noch eingesperrt und müssten vor allem immer noch übermäßig viele Eier produzieren. Heutige Hennen legen 300 Eier pro Jahr. Vor der Ausbeutung der Tiere waren es 20 bis 30. Das sind körperliche Höchstleistungen, die den Hühnern abverlangt werden.“
300 Eier pro Jahr! Monika dachte an ihre Schwangerschaften und stellte sich vor wie es wäre, ein Kind nach dem anderen zu bekommen. Zwanzig, fünfundzwanzig Kinder. Ein menschliche Gebärmaschine. Ihr Körper schüttelte sich als wollte er die grausige Vorstellung loswerden wie ein nasser Hund das Wasser in seinem Fell.
„Siehst du Mama, ich sag doch immer, dass auch vegetarisches Essen nicht gut für die Tiere ist“, sagte Sophie.
„Da hast du Recht, Kleine“, sagte die junge Frau und hob die Hand zum High Five. „Du bist auf einem guten Weg!“
Sophie lächelte mit leicht geneigtem Kopf, schlug dann aber doch ein.
„Gut, danke. Lass uns weitergehen“, sagte Monika, um die Rekrutierung ihrer Tochter für eine Tierrechtsaktivistengruppe zu verhindern. Zumindest für den Moment.
Du musst ein Schwein sein in dieser Welt
Monika und Sophie flanierten über das Festivalgelände, vorbei an allerlei Verkaufsständen. Vegane Kleidung aus Bioanbau wurde angeboten, Gewürze, speziell für die vegane Küche, Küchenutensilien aus Holz, nachhaltige Aufbewahrungs- und Transportbehältnisse für Lebensmittel, Flaschen aus Recyclingmaterial, Schmuck und Accessoires aus Naturmaterialien und Bücher über vegane Küche und ein nachhaltiges Leben ohne Plastik.
Gut ein Viertel des Festivalgeländes war für Essenstände vorbehalten. Diese waren ringsum eine Bühne aufgestellt, sodass sich die Besucher jederzeit mit Essen und Getränken versorgen konnten, während sie Vorträge, Podiumsdiskussionen oder Live-Bands verfolgten.
Das Speisenangebot deckte alle Weltküchen ab, von den europäischen Länderküchen Deutschlands, Griechenlands, Frankreichs, Spaniens und Italiens über asiatische Küche aus China, Vietnam, Thailand über amerikanische Angebote aus den USA, Mexiko, der Karibik und Peru bis hin zu afrikanischen Speisen aus Marokko, Ägypten, Nigeria, Namibia und Südafrika. Alles vegan und bio. Kein Tier muss für unser Essen leiden stand auf einem großen Banner, das über die ganzen Essenstände gespannt war.
„Wahnsinn!“, rief Sophie, „So viele verschiedene Gerichte. Hab ich doch gesagt, dass veganes Essen nicht nur Beilagensalat ist!“
Monika schluckte den Ärger über den Seitenhieb hinunter und fragte:
„Was möchtest du essen?“
Während sich Sophie ein Curry mit Kichererbsen, Spinat und Kürbis holte, ging Monika zum Stand der US-Küche anbot und bestellte Pulled Austernseitlinge. Bei einem der vergangenen Grillabende bei Cornelia und Klaus, die selbstredend von Mengen an Fleisch dominiert worden waren, die den Eiweißbedarf aller Anwesenden für zwei Wochen hätten abdecken können, hatte sie zum ersten Mal Pulled Pork, also stundenlang bei niedriger Hitze gegartes, den Fasern nach zerrissenes, deswegen Pulled, und mit BBQ-Sauce mariniertes Fleisch, das mit Krautsalat (natürlich echt amerikanischem Coleslaw mit viel Majo) in einer knusprigen Semmel serviert wird. Auf die Hand für Zwischendurch, Kalorien für drei Mahlzeiten, aber herrlich in Konsistenz und Geschmack. Genau das, was Monika und ihre Freunde liebten.
Genau das wurde hier auch serviert. Nur, dass das Schweinefleisch gegen Austernseitlinge und die Majo durch vegane Majo ersetzt wurden. Skeptisch Biss Monika hinein. Der Knack der Semmel, die Frische des Coleslaws, die Mischung aus Raucharoma, Süße und Umami, der volle Biss der Pilze. Kaum hatte sie den ersten Bissen geschluckt, biss sie ein zweites Großes Stück ab. Der Genuss stand den beim Grillabend in nichts nach – und das ganz ohne tierische Zutaten! In Monika öffnete sich ein kleines Fenster und gab den Blick auf eine Welt voll Genuss allein aus pflanzlichen Zutaten frei. Sie wollte aus dem Fenster in jedem Fall eine Tür machen. Ob sie diese dauerhaft durchschreiten würde, wusste sie noch nicht.
Fühle dich sauwohl in der Masse
Hinter den Essensständen stand wieder ein Informationszelt, etwas größer als das mit der Klanginstallation aus dem Massenstall. Ein Schweineleben stand über dem Eingang.
„Lass uns da reingehen, Mama“, sagte Sophie. Monika atmete hörbar tief ein.
„Eigentlich hab ich nach der Hühnererfahrung genug.“
„Aber du musst doch auch wissen, wie es den Schweinen geht!“
„Muss ich das?“
„Ja, natürlich, komm!“, sagte Sophie und zog ihre Mutter an der Hand.
Seufzend folgte Monika ihrer Tochter.
„Hey, cool, dass ihr da seid, kommt rein“, begrüßte sie ein junger Mann, der Monika mit seinem zerzausten Haar und seiner dünnen Statur an Pampasgras erinnerte.
„Wow, so eine wollte ich schon immer ausprobieren“, sagte Sophie und griff nach einer der VR-Brillen, die auf dem Tisch vor ihnen lagen.
„Ja, die sind super“, sagte der Pampasgrasmann, „wobei man mit denen auch angenehmere Dinge machen kann als das hier.“
„Und ich dachte, wir hätten das Unangenehme für heute schon hinter uns“, sagte Monika.
„Ihr wart also schon ein Huhn?“, fragte der Mann. Monika und Sophie nickten. Der Mann grinste. „Das ist doch gar nichts. Hier bei mir könnt ihr euch sauwohl fühlen.“
„Was auch immer das heißen mag“, sagte Monika.
„Das wirst du gleich sehen“, sagte er, nahm eine VR-Brille und reichte sie Monika.
„Du hast ja schon eine“, sagte er zu Sophie. „Geht in eine der Gitterboxen und setzt die Brillen auf.“
Vor Ihnen waren Gitterboxen mit einer Grundfläche von etwa 60 Zentimeter mal ein Meter. Der Boden bestand aus einem Plastikgitter, das an einen unförmigen Backofenrost erinnerte.
„Das sind aber keine echten Schweineboxen, oder?“, fragte Sophie.
„Nein, die von den Schweinen sind natürlich länglich. Aber wir wollten euch nicht auf alle Viere zwingen. Das reicht so schon.“
„Ich glaube, ich schau dir lieber zu“, sagte Monika und reichte dem Pampasgras die VR-Brille.
„Ach, Mama!“, rief Sophie.
„Keine Angst, es passiert nichts“, sagte der Mann und wehrte die Brille ab. „Zumindest nicht wirklich.“
„Na dann“, sagte Monika und zwänge sich in die Box.
Der Mann Schloss die Türen hinter ihnen, sodass sie an vier Seiten von Gittern umgeben waren.
Monika setzte VR-Brill und Kopfhörer auf. Für einen kurzen Augenblick war es um sie herum vollständig dunkel. Sie nahm einen bewussten Atemzug, spürte, wie sie ruhiger wurde.
Mehr spannende und inspirierende Geschichten aus Monikas Leben findest du in meinem Buch Glück im Moment.
Aus der Perspektive des Schweins
Es wurde hell. Das erste, das Monika sah, war ein Schweinerüssel, allerdings nicht wie man ihn normalerweise sieht, sodass er an eine Steckdose erinnert, sondern aus der Perspektive des Schweins. Direkt vor dem Rüssel war eine Betonrinne, etwa zwanzig Zentimeter breit, der Boden mit einer bräunlichen Flüssigkeit bedeckt. Sie hob den Blick ein wenig und sah gegenüber Schweine, die ebenfalls hinter einer solchen Rinne standen, eingepfercht in einen Käfig aus Metallstäben, kaum größer als sie selbst. Umfallen konnten die Schweine vermutlich nicht.
Monika wendete den Kopf nach links und stieß mit der VR-Brille an die Gitterstäbe. Für sie sah es aus, als wäre es ihr Rüssel gewesen. Sie wich zurück, drehte den Kopf erneut, etwas vorsichtiger diesmal. Sie konnte kein Ende der Reihe der Schweine ausmachen. Eines am anderen stand eingepfercht in eine Gitterbox.
Sie blickte nach rechts. Etwa zehn Schweine waren noch in der Reihe. Weiter vorne war die Aufzuchtstation. Muttersauen lagen in ähnlichen Gitterboxen, die aber noch kleiner schienen. War die Box überhaupt hoch genug, dass die Schweine sich hätten aufrecht hinstellen können? Waren sie dazu überhaupt noch in der Lage?
Sie schienen völlig apathisch, lagen nur da, reglos, der Blick leer, wie der Tausend-Meilen-Blick von Soldaten, die äußerlich womöglich unversehrt, aber innerlich gestorben aus einer Schlacht heimkehren und durch alles und jeden hindurch in die Ferne blickten. Monika hatte einen solchen Blick im Bild Two Thousand Yard Stare des US-Malers Thomas C. Lea gesehen. Offenbar konnten nicht nur Menschen innerlich zerbrechen.
Acht Ferkel kämpften wild vor der Muttersau um den besten Platz an den Zitzen, sprangen übereinander, rempelten, bissen, traten. Nicht selten blieben sie dabei in einer der Spalten im Boden hängen, durch die ihre Fäkalien abfließen sollten.
Die Natur lässt sich nicht gut in Massen halten
Ein helles Lichtdreieck fiel in den Raum. Die Ferkel flüchteten wie Vampire, versuchten sie sich dem Schein zu entziehen, wollten sich hinter ihrer Mutter verstecken. Das Quieken unterschied sich nicht von den Angstschreien kleiner Kinder. In Monika löste es die gleichen Gefühle aus, doch sie konnte ihnen nicht helfen.
Sie sah, dass es nicht die Sonne war, vor der die Ferkel flüchteten, sondern der Bauer, dessen olivgrüne Gummistiefel bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch erzeugten, wenn sie das Gemisch aus Tierexkrementen, das noch nicht den Weg in die Spalten des Bodens gefunden hatte, zur Seite spritzen ließen. Sein Bauch und sein Gesicht waren so rund, als hätte man Bälle aufeinandergestapelt, wobei das matte Grün seiner PVC-Latzhose am Bauch einen seltsamen Kontrast zu seinem prallroten Gesicht bildete. Seine grobporige Nase schimmerte an den Flügeln violettblau, sein Atmen klang wie ein Blasebalg.
Er ging auf die Ferkel zu, breitete die Arme aus, um sie daran zu hindern, an ihm vorbei zu huschen. Mit seinem wankenden Gang und der verschlammten Gummihose sah er aus wie das Monster aus dem Sumpf. Aus Sicht des Ferkels war er auch ein Monster.
Als er nah genug war, beugte er sich schnell nach unten und griff eines der Ferkel. Das Ferkel schrie laut auf, wandte sich, strampelte wild mit den Beinen, biss um sich, konnte sich aber den Pranken des Bauern, die so groß waren wie die XXL-Schnitzel, die einmal aus den Schweinen werden sollten, nicht entziehen.
Der Bauer steckte sich das Ferkel unter einen Arm, nahm es in den Schwitzkasten. Er ging zu einem kleinen Tisch, von dem er ein längliches Gerät nahm, das Monika an Holgers Multifunktionswerkzeug erinnerte. Das Kabel steckte in einer vergilbten, mit Spinnweben überzogenen Steckdose, am vorderen Ende war ein kegelförmiger Bohrer aufgesetzt. Wie beim Zahnarzt, nur viel größer.
Aber er erfüllte den gleichen Zweck. Dieser Bohrer wurde aber nicht behutsam und sorgfältig eingesetzt, wie es die Zahnmediziner machen, sondern mit der routinierten Geringschätzung, mit der man Unkraut jätet.
Mit der Linken griff der Bauer so um den Unterkiefer des Tieres, dass er ihm das Maul aufdrücken konnte, mit der Rechten schaltete er den Bohrer an. Ein lautes Surren mischte sich unter das panische Quieken der Ferkel und das gleichgültige Grunzen der anderen Schweine.
Das Surren wurde von einem hellen Schleifgeräusch übertönt, als der Bauer den Bohrer an den Zähnen dies Ferkels ansetzte. Das Ferkel strampelte wild mit den Hinterläufen, wollte fliehen, wollte weg, doch es gab keinen Ausweg.
Nach nicht einmal zwei Minuten hatte das Ferkel seine spitzen Eckzähne verloren. Anstatt dass der Bauer das winzige Tier, das zitterte wie ein Welpe, der an einem Januarmorgen vor die Tür gezerrt wird, auf den Boden gesetzt hätte, legte er den Bohrer ab und drehte das Ferkel um. Er nahm ein Gerät, das ähnlich aussah wie das Erste, anstelle des Bohrers aber einen Aufsatz mit zwei gebogenen Stäben, die vorne in einem V zusammenliefen, hatte.
Mit der linken Hand zog er das kleine Ringelschwänzchen des Schweins in die Länge, und setzte das V ein kleines Stück hinter dem Körper des Tieres an.
Monika wollte dem gequälten Tier helfen, wollte verhindern, was gleich passieren würde. Sie wollte schreien, doch aus ihrer Kehle kam nur ein Grunzen. Sie wollte das Ferkel befreien, wollte losstürmen auf den Bauern, doch sie stieß gegen unnachgiebige Metallstäbe. Ihr blieb nichts anderes übrig als mitanzusehen, wie der Bauer dem Ferkel den Schwanz abschnitt.
Sie konnte das Gesicht des Ferkels sehen, das hinten unter dem Arm des Bauern in ihre Richtung sah. In dem Moment, in dem ein Zischen zu hören war, riss das Ferkel das Maul weit auf. Hätte Monika das Ferkel nicht gesehen, hätte sie gedacht, dass ein kleines Baby nach seiner Mutter schreit, ein Baby, das noch nicht versteht, was mit ihm geschieht, das sich nach Liebe und Wärme sehnt und stattdessen Gleichgültigkeit und Schmerz bekommt.
Achtlos ließ der Bauer das Ferkel aus der Umklammerung, hielt es kaum genug, um einen freien Fall zu verhindern, warf gleichzeitig den abgeschnittenen Ringelschwanz in eine schwarze Plastiktonne. Dann machte er sich auf, um das nächste Ferkel zu fangen.
Wie kleine, matte Knöpfe starrten die schwarzen Augen zwischen zu groß wirkenden Öhrchen und der runden Schnauze, die sich leicht im Rhythmus des ruhiger werdenden Atems bewegte in Monikas Richtung. Warum, schienen sie zu fragen. Warum?
Die traurige Wahrheit
Monika nahm die Brille ab, ließ den Kopf nach vorne an das Eisengitter vor sich sinken. Durch einen Tränenfilm konnte sie nichts erkennen. Sie musste zweimal schlucke, bevor sie sich die Augen wischen und sich umdrehen konnte.
„Passiert das wirklich mit den Ferkeln?“, fragte Monika.
„Ja, leider“, saget der Pampasgrasmann. „Zum Glück nicht in allen Ställen. Es gibt immer mehr Tierhalter, die diese Prozedur nur noch in Betäubung vollziehen oder ganz darauf verzichten, weil sie den Schweinen genug Platz lassen, dass die sich nicht gegenseitig die Schwänze abbeißen. Aber auch bei denen sind die Tiere immer noch eingesperrt und werden nach kurzer Zeit geschlachtet.“
„Es geht ihnen also nur weniger schlecht, aber immer noch schlecht“, sagte Sophie.
„So kann man es sagen. Und so lange die Leute nicht Hülsenfrüchte und Gemüse anstatt Schweinebraten und Schnitzel essen, wird sich daran auch nicht viel ändern.“
„Dann sind wir also mit schuld, dass es den Schweinen so schlecht geht“, sagte Monika.
„Du schon, ich nicht“, sagte Sophie.
„Ich sag mal so, jede, die auf Fleisch verzichtet, ist ein Gewinn. Aber es muss sich insgesamt etwas ändern. Es muss normal sein, dass man Gemüsebratlinge statt Fleischpflanzerl ist. Dafür fehlt oft schlicht und ergreifend aber das Angebot. Gleich ob du durch die Stadt gehst oder in einem Freizeitpark bist, es gibt Wiener, Bratwürste, Leberkäse. Die vegetarische Alternative sind oft Pommes. Wir wollen mit dem Festival hier auch zeigen, wie vielfältig die Alternativen sind und vor allem, wie gut sie schmecken.“
„Und die Kunstinstallationen“, fragte Monika.
„Naja, das Essensangebot soll die Leute auf die gute Seite ziehen, die Kunstinstallationen sollen sie zusätzlich schubsen.“
„Das Ziehen gefällt mir besser“, sagte Monika.
„Ich glaube, du hast schon auch einen Schubs nötig“, sagte Sophie und klopfte ihrer Mutter auf die Schulter.
Werde zur Kuh
„Wenn du noch einen Stubs brauchst, dann probiere mal da drüben das Werde zur Kuh aus.“
„Eigentlich habe ich heute schon genug erlebt, wie es den Tieren geht.“
„Naja, das hier war nur eine Simulation.“
„Und was ist bei den Kühen?“
„Dort kannst du wirklich Massentierhaltung erleben.“
„Jetzt bin ich doch neugierig“, sagte Monika.
„Dann lass es uns probieren“, rief Sophie.
Auf dem Weg zum Kuhzelt spürte Monika, wie ihr Herz immer stärker schlug. Die Klanginstallation aus dem Hühnerstall und die VR-Simulation aus dem Schweinestall hatten sie eigentlich schon genug mitgerissen. Warum hatte sie nur gesagt, dass sie neugierig sei? Bevor sie überlegen konnte, was sie Sophie erzählen könnte, um nicht mit in das Kuhzelt zu müssen, begrüßte sie ein älterer Herr am Eingang.
„Werde zur Kuh und erlebe, was es wirklich heißt, wie ein Tier behandelt zu werden“, sagte der Mann mit dröhnender Stimme.
Ich kenne diese Stimme, dachte Monika. Sie blickte den Mann an, erkannte das runde Gesicht, die durchdringenden Augen. Es war der Mann aus dem Supermarkt. Monika zog eine Augenbraue hoch, schüttelte den Kopf.
„Sie?“, sagte sie ungläubig.
„Ja, ich. Warum so überrascht?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht weil ich nicht damit gerechnet habe, Sie so schnell wieder zu sehen.“
„Das Schicksal wollte es so“, sagte der Mann.
Monika wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
„Was können wir hier machen?“, fragte Sophie.
Der Mann beugte sich zu ihr nach unten und sagte: „Hier könnt ihr wirklich erleben, wie es ist, eine Kuh in Massentierhaltung zu sein.“
„Ist das auch so eine VR-Simulation?“
„Nein, das ist echt“, sagte der Mann und zwinkerte Sophie zu. „Ich würde vorschlagen, wir lassen deine Mutter beginnen.“ Sophie ließ die Arme nach unten fallen, wollte protestieren, doch der Mann kam ihr zuvor. „Das ist, wie es sein soll“, sagte er und an Monika gewandt:
„Bitte treten sie ein.“
Er legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie ins Innere des Zeltes. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und Monika erkennen konnte, was im Zelt war, war sie so überrascht als hätte eine Kuh mit ihr gesprochen. Denn da war keine Kuh, auch keine Gitterbox, VR-Brille, Bildschirm oder sonst irgendwas. Das Zelt war vollkommen leer. Außer dem Grasboden und den Zeltwänden war nichts zu sehen. Irritiert drehte sich Monika zu dem Mann um. Dieser legte ihr die Hände auf die Schultern und sagte:
„Schau mir tief in die Augen!“ Er fixierte Monikas Auge mit seinen. Sie konnte sich seinem Blick nicht entziehen. Um seine braunen Pupillen bildete sich ein goldener Ring. Der Ring wurde heller und kräftiger, zeichnete sich immer deutlicher ab, begann zu leuchten. Monika fühlte, dass etwas an ihrem Körper zog. Es waren nicht die Hände des Mannes, vielmehr war es eine Energie, die an ihrem gesamten Körper zog, als wäre sie in einem Strudel, der sie immer weiter in die Tiefe zog.
Ein wahres Kuhleben
„Du bist eine Kuh!“, sagte der Mann. Der goldene Ring in seinen Augen leuchtete nun blendend hell, dennoch konnte Monika den Blick nicht abwenden. Das Licht wurde heller und heller. Der Sog an ihrem Körper wurde immer stärker. Sie wurde zum Licht gezogen.
„Du bist eine Kuh!“
Es riss Monika nach vorne. Um sie herum war nur noch Licht. Nichts als hellgelbes Licht.
„Du bist eine Kuh!“ Die Stimme dröhnte lange nach, bevor sie in der Unendlichkeit verklang.
Wie eine Welle am Strand zog sich das Licht zurück. Was es freigab, war kein Sand, sondern ein Kuhstall.
Anstelle des allesüberstrahlenden Weiß trat durch von Spinnweben und Schmutz an Milchglasscheiben gefiltertes Tageslicht. Vor sich sah Monika eine von weißbraunem Fell überzogene lange Schnauze. War sie doch wieder in der virtuellen Realität gelandet?
Überall um sich herum hörte sie Schmatzen, Rülpsen, Gurgeln und Pupsen unzähliger Kühe. Jede von ihnen eingepfercht in einen engen Gitterstand, kaum größer als die Kuh selbst. Auch um Monika waren Mettalstäbe. Einzig den Kopf konnte sie ein wenig zur Seite bewegen, für den Körper war auf beiden Seiten kein Spielraum. Bei jeder Bewegung stieß sie an die harten Stäbe.
Wieso fühlten diese sich so echt an? Sie stand doch frei im Zelt. Darin war kein Käfig oder Ähnliches. Wie konnte das sein?
Monika hob die Hand, um sich am Kopf zu kratzen. Zumindest wollte sie das. Es gelang ihr nicht. War sie gefesselt? Wieso konnte sie ihre Hand nicht heben? Sie blickte nach unten.
Anstatt der Hand, hob sie einen Huf, der an einem langen, behaarten Bein hing. Wie konnte das sein? Zweifellos hob sie einen Kuhfuß. Was für eine Simulation war das? Es sah für sie nicht nur aus wie ein Kuhfuß, es fühlte sich auch nicht mehr an wie ihre Hand. Sie konnte keinen Finger fühlen, sie konnte die Hand nicht öffnen oder schließen. Es war, als hätte man die Hand zusammengebunden. Oder schlimmer, ihr die Hand abgehakt und sie hätte nur noch den Unterarmstumpf.
Monika wollte an sich herabblicken, konnte es aber nicht, weil sie den Kopf nicht weit genug in Richtung Rumpf beugen konnte. Sie drehte ihn zur Seite. Alles, was sie sah, war die Flanke eines massigen Kuhkörpers.
Sie wich zurück. Jeder Schritt fühlte sich an als trüge sie einen schweren Rucksack, der ihre Gelenke überbeansprucht. Konnte eine Simulation so real sein? Sie sah nicht nur Bilder aus dem Kuhstall und nahm die Geräusche war, es roch auch wie im Kuhstall und, was sie am meisten beunruhigte, sie fühlte sich wie eine Kuh.
Zumindest nahm sie an, dass sich eine Kuh so fühlte. Sie fühlte sich auf jeden Fall nicht mehr wie sie selbst. Alles fühlte sich fremdartig an, komplett anders. Es fühlte sich an, als wäre sie zur Kuh geworden.
Nein, das konnte nicht sein. Das war doch nicht möglich! Oder doch?
Du bist eine Kuh, hatte der Mann gesagt. Nicht, du fühlst dich wie eine Kuh, oder erlebe, wie sich eine Kuh fühlt, sondern Du bist eine Kuh. War sie zur Kuh geworden? Wie hätte sie verwandelt werden können? Das wäre doch Zauberei. So ein Unsinn. Magie gab es nur in Märchen. In der echten Welt gab es keine Zauberei!
So sehr sie auch versuchte es wegzudiskutieren, Monika kam zu keinem anderen Schluss. Sie musste verwandelt worden sein. Vielleicht war die Assoziation des Mannes im Supermarkt mit einem Magier doch nicht so weit hergeholt.
Wie Wasser durch feuchten Sand sickerte die Erkenntnis in ihr Bewusstsein. Der Mann hatte sie in eine Kuh verwandelt. Sie war eine Kuh geworden. Ihr wurde nicht vorgespielt, wie sich eine Kuh fühlte, sie war zu einer leibhaftigen Kuh geworden.
Als wehte ein Wirbelsturm durch ihren Kopf flogen Monikas Gedanken hin und her. Von Kann das sein? über Wie komme ich hier wieder raus? bis hin zu Wie lebe ich als Kuh? Antworten auf diese Fragen für Monika unerreichbar wie der Horizont.
Als die Erkenntnis, dass sie womöglich für den Rest ihres Lebens eine Kuh bleiben würde, in ihr Bewusstsein sickerte, spürte sie Panik in sich aufsteigen. Ihre Atmung beschleunigte sich ebenso wie ihr Herzschlag. Sie spürte den Puls in ihrem Hals. Ihr wurde übel. Dabei handelte es sich nicht um eine leichte Übelkeit wie bei einer Busfahrt über eine Passstraße. Auch nicht um die Übelkeit, die ein heftiger Kater mit sich bringt. Die Übelkeit ging auch deutlich über die Übelkeit einer intensiven Norovirusinfektion hinaus. Monika hatte das Gefühl, dass, wenn sie erbrechen würde, all ihre Organe aus ihrem Körper schießen würden. Sie wusste nicht, ob dies die Panik war oder die Übelkeit, die man empfindet, wenn man vier Mägen hat.
Ich muss hier raus! Wie komme ich hier raus?
Egal in welche Richtung sich Monika bewegte, sie stieß nach wenigen Zentimetern an harte Metallstangen. Sie konnte nur ihren Kopf durch zwei bewegliche Stäbe stecken, die zusammen ein ‚V‘ ergaben. Dies erlaubte es ihr aber nur, an das gammlige Gras zu kommen, das vor ihr lag, mehr grau als grün war und roch wie drei Jahre alte Joggingschuhe. Ihr massiger Körper passte nicht ansatzweise durch die Öffnung.
Der letzte Weg
Eine laute Sirene ließ Monika zusammenzucken. Das rotierende Licht oranger Warnleuchten ließ Schattengeister durch den Stall tanzen. Ein metallisches Klacken war zu hören. Als Monika nach der Quelle suchte, erkannte sie, dass die Kühe sich nach hinten bewegten. Offenbar waren ihre Pferche geöffnet worden.
Sie würde zumindest aus dem Stall kommen. Ein Lichtstrahl, der durch die dunkle Wolkendecke fiel. Schnell ging auch sie zurück. Tatsächlich stieß sie dieses Mal nicht an Metallstangen. Stattdessen kam sie in einen schmalen Gang, der an der Wand hinter den Kuhständen vorbeiführte. Sie folgte den anderen Kühen, die sich wie die Autos im Feierabendverkehr voranschoben.
Ja, sie gingen auf die Tür zu. Sie würde Tageslicht sehen. Draußen war die Wahrscheinlichkeit größer eine Lösung für ihre Probleme zu finden.
Endlich kam auch Monika zur Tür. Sie bog um die Ecke, erwartete Sonnenstrahlen, blauen Himmel, saftiggrüne Wiesen, das bilderbuchidyll jeder Milchwerbung. Schneller als ein Blatt Papier im Lagerfeuer verschwand die heile Phantasiewelt aus ihrem Kopf, als sie um die Ecke blicken konnte.
Statt Sonne blaues Neonlicht, statt Himmel türkise Stahlwände, statt saftig grüner Wiesen eine LKW-Laderampe. Ein Tiertransporter.
Wo bringt der uns hin?
Monika blieb stehen, wollte zurück. Sie stieß an die Kuh hinter sich, die stoisch weiterlief, Monika voranschob. Ein großer Mann, den sie bislang nicht gesehen hatte, trat an sie heran, schlug ihr mit der Hand auf die Schulter. Sie hörte seine Stimme, konnte nichts verstehen. Es erinnerte sie an Affenschreie. Sie verstand die Worte des Mannes nicht, spürte nur die Bedrohlichkeit, die in ihnen lag.
Mit dem lege ich mich lieber nicht an.
Sie ging zwei Schritte weiter.
Wieso sollte ich mich nicht mit ihm anlegen? Ich bin eine Kuh. Ich bin zigmal so schwer wie der Mann. Was soll er mir schon tun?
Monika schob ihren Körper in Richtung des Mannes. Mit ihrem Gewicht könnte sie jeden zerquetschen. Vielleicht war nicht alles schlecht daran, eine Kuh zu sein.
Bevor sie ihren Triumph genießen konnte, spürte sie einen brennenden Schmerz, der sich in einer langen Linie über ihre Rippen zog. Wenige Millisekunden nach dem Schmerz folgte der laute Knall einer Peitsche. Das sollte er ihr tun. Wieder hörte sie die laute Stimme. Noch aggressiver.
Langsam ließ der Schmerz nach. Das Brennen wurde zu einer warnenden Wärme. Sie folgte den anderen Kühen in den LKW. Im LKW sollte ihr nichts passieren.
Aber wer weiß, wo der LKW sie hinbringt?
Das Ende eines kurzen Lebens in der Massenvernichtungsfabrik
Obwohl der LKW bereits voll schien, wurden immer weitere Kühe auf die Ladefläche gezwängt. Irgendwann standen die Kühe so eng, dass an Umfallen nicht mehr zu denken war. Auch eine Art der Ladungssicherung.
Außer den Körpern der Kühe neben sich und der Decke des LKW-Anhängers konnte Monika nichts erkennen. Sie spürte das Beschleunigen und Bremsen, die Kurven, das Wackeln von unebenem Untergrund. Sie hätte aber nicht sagen können, wie lange die Fahrt dauerte oder wohin sie fuhren.
Irgendwann spürte sie, dass der LKW rückwärts fuhr. Der charakteristische Warnton bestätigte sie. Wenig später hörte sie das mechanische Geräusch der Ladeklappe, die geöffnet wurde. Wie Wasser beim Öffnen der Schleusentore floss die Fleckviehmasse aus dem Laster. Links und rechts standen zwei Männer mit weißen Haarnetzen und weißen Plastikschürze, die dafür sorgten, dass keines der Tiere Reißaus nahm.
Irgendwann schritt auch Monika über die Laderampe. Als sie auf weißen Fliesenboden trat, rutschte sie leicht aus, konnte aber einen Sturz vermeiden. Auf vier Beinen zu laufen hat auch Vorteile.
Über ihnen hingen Leuchtstoffröhren in unverkleideten Leuchten. Einige flackerten immer wieder, was bei Monika das Bedrohliche Gefühl eines Gewitters auslöste, das einen glauben ließ, das eigene Leben ginge gleich zu Ende. Vielleicht trog sie dieses Gefühl nicht.
Sie wurde mit den anderen Tieren in einen schmalen Gang geführt, der gerade bereit genug für ein Tier war. Wenig später kam die Kuhkarawane gänzlich zum Stehen. Eingepfercht zwischen zwei Kühen und gekachelten Wänden hatte Monika wieder in etwa die Bewegungsfreiheit, die sie auch im Stall gehabt hatte. Allerdings ging es hier Kuh um Kuh vorwärts. Wie lange es dauerte, bis sie wieder eine Kuhlänge nach vorne kam, konnte sie nicht sagen.
Wie im Stall roch es nach Kuhdung und Urin. An die Stelle des zu vergammeln beginnenden Grases trat Eisengeruch.
Wieso war dieser hier so intensiv, wo sie doch zwischen Kacheln und nicht mehr zwischen Gitterstäben standen?
Eine gefühlte Ewigkeit ging es so weiter, doch die Kühe muhten schicksalsergeben wie Märtyrer vor sich hin, anstatt zu versuchen, Hades noch einmal zu entkommen.
Die letzte Tür
Irgendwann verschwand die Kuh vor Monika hinter einer Tür, die sich vor Monika wieder schloss. Was wartete dahinter? Was würde mit ihr geschehen?
Ein metallenes Rolltor, Kachelwände, steriles Licht. Wie hatte sie das nicht früher bemerken können? Sie befand sich im Schlachthaus. Wieder ergriff sie Panik.
Weg hier! Raus! Sie musste fliehen! Nur wie? Sie wollte rückwärtslaufen, doch traf auf eine Kuh und erntete nur mürrische Gemuhe. Kein Ausweg. Nicht links, nicht rechts, nicht hinten.
Ratternd öffnete sich das Tor.
Nein, nicht da hinein. Nein! Wir müssen zurück wollte sie den anderen zurufen. Das Einzige, das ihrer Kehle entwich, war ein Muh. Allerdings schien sie nicht die Sprache der Kühe zu sprechen, obwohl sie nun selbst eine war. Zumindest konnte sie die anderen nicht zum Handeln veranlassen.
Stattdessen wurde sie von der Kuhmasse hinter sich weitergeschoben, weiter durch das offene Tor. Mit einem dröhnen schloss sich das Tor.
Monika drehte den Kopf und sah, dass es nach hinten keinen Ausweg mehr gab. Als sie den Kopf wieder nach vorne drehte, blickte sie auf weiße Gummistiefel, die unter einer weißen Plastikschürze hervorschauten. Sie blickte nach oben und sah in das Gesicht eines Mannes, der Mitte 20 sein mochte, dessen Blick aber bereits mehrere Leben hinter sich zu haben schien.
Der Mann setzte einen langen Stab der Aussah wie der Griff einer großen Taschenlampe, bei dem an Stelle der Glühbirne ein vorne abgeflachter Bolzen war, auf Monikas Stirn. Monikas Unterkiefer sank nach unten.
Sie wollte protestieren, wollte fliehen, wollte den Mann angreifen. Aber sie war starr als hätte sie Medusa ins Gesicht geblickt. Das Gesicht der Medusa war das Gesicht eines Mannes, der Teil einer industriellen Tötungsmaschine war. Der Teil, der noch nicht von Maschinen übernommen werden konnte (oder durfte), der aber schon vor langer Zeit jegliches Empfinden vom mechanischen Funktionieren seines Körpers abgekoppelt hatte, um nachts zumindest noch ein paar Stunden ohne Alpträume zu schlafen.
Mit einer winzigen Bewegung seines Daumens löste der Mann das Bolzenschussgerät aus. Monika spürte einen heftigen schlag auf den Kopf. Ihre Beine gaben nach. Ihr massiger Körper klatschte wie ein nasser Waschlappen auf den Boden.
Der Schmerz, der ihren Körper durchfuhr, fühlte sich an wie der, wenn man sich direkt den Nerv am Ellbogen stößt, nur dass er nicht nur ein Gelenk, sondern jedes einzelne durchfuhr.
Ein Ende wie Millionen andere
Als der Schmerz langsam abebbte, wollte Monika aufstehen, doch kein Muskel bewegte sich. Sie lag gelähmt da. Vermutlich hätte der Bolzenschuss sie auch bewusstlos machen sollen. Hätte.
Sie hörte das gedämpfte Muhen der Kühe, die noch vor der Tür warteten, ahnungslos, was sie dahinter erwartete, hörte das quatschende Geräusch von Gummistiefeln auf nassen Kacheln, hörte das Rascheln von Ketten, roch den Duft des gewaltsamen Todes, eine Mischung aus Angstschweiß, Exkrementen und Blut. Mindestens zwei davon stammten von ihr selbst.
Ein Mann ging an ihr vorbei, beugte sich hinab, wickelte eine Eisenkette um ihr rechtes Hinterbein. Ein mechanisches Rattern ertönte, die Kette spannte sich. Mit einem Ruck wurde Monikas schlaffer Körper gedreht und ein kurzes Stück über den Boden geschleift, bevor er angehoben wurde. Monika spürte, wie sie Stück für Stück den Kontakt zum Boden verlor. Erst nur die Hinterbeine, die Hüfte, der Brustkorb, die Schulter. Schließlich auch der Kopf.
Nun hing sie vollends in der Luft, ein Bein von der Kette gehalten, die anderen schlaff nach unten wie die Äste eines Christbaums zwei Wochen nach Weihnachten. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie ein ähnliches Schicksal ereilen würde.
Sie spürte eine Hand, die ihr linkes Vorderbein packte, sie ein wenig zur Seite drehte. Sie sah ein Messer mit einem weißen Plastikgriff, die Klinge so oft geschliffen, dass sie eher aussah wie ein Spieß als ein Messer.
Wie viele Kehlen mochten damit schon durchtrennt worden sein?
Diese abgewetzte Klinge war es also, das letzte Rädchen in der Vernichtungsmaschine an deren Beginn Milliarden winzige Wesen stehen, die so voll Hoffnung das Licht erblicken, das niemals das der Sonne sein wird, die vom ersten bis zum letzten Atemzug gefilterte Luft atmen, deren kleine Füßchen, die zum Scharren, Laufen, Springen gemacht sind, nie mehr als ein paar Schritte am Stück laufen werden, deren größte Freude es sein würde, wieder eine Ration von dem viel zu hochkalorischen Futter zu bekommen, das mit ihrer natürlichen Ernährung so viel zu tun hatte, wie Erdbeerjoghurt mit den süßen, roten Feldfrüchten, die wir so gerne jeden Sommer pflücken, die mehr Medikamente erhielten als eine Apotheke in einer Kleinstadt, bis eben jenes letzte Rädchen dem, was als Leben zu bezeichnen an Zynismus grenzte, ein Ende setzte.
Dies war Monikas letzter bewusster Gedanke. Der nächste war brennender Schmerz an der Kehle.
Sekunden später hörte sie ein Röcheln. Laut. Nass. Das Röcheln kam aus ihrem Hals, in dem nun ein breiter Schnitt klaffte.
Luft, sie brauchte Luft. Es fühlte sich an, wie wenn ihr beim Tauche die Luft ausging und sie auftauchen musste. Sie konnte aber nicht auftauchen. Stattdessen wurde sie immer weiter in die Tiefe gezogen. Der Druck auf der Lunge wurde größer, die Luft in ihrem Körper weniger. Sie hatte das Gefühl, gleich würde ihr Körper zerreißen. Der Druck stieg weiter. Luft, Luft, Luft! Sie brauchte Luft. Stattdessen kam Finsternis.
„Mama, steh auf! Wir wollen doch zum Love Earth Festival!“
Monika schreckte hoch, Sophie stand vor ihr, grinste sie an. Monika blickte sich um. Sie war in ihrem Schlafzimmer. Nachthemd und Bett schweißnass. Sie atmete tief ein. Nie hatte es sich so gut angefühlt, die kühle Luft in der Lunge zu spüren.
„Ja, gleich“, sagte sie und nickte ihrer Tochter zu.
Florian streckte seinen Kopf zur Tür herein. „Ma, was gibt es heute Abend zu essen?“
„Gemüse“, antwortete Monika keuchend. „Gemüse!“