Selbstliebe leben

Schlagwort: Natur

Massentierhaltung live erleben

„Das sollten Sie nicht kaufen“, hörte Monika eine Stimme neben sich, die sie an Saruman in den Herr der Ringe Verfilmungen denken ließ, als sie die Plastikschale, in der auf ein Saugflies drei Schnitzel geschichtet waren, die etwa sechs Monate lang Teil eines Tieres hatten sein dürfen, das nach wenigen Wochen von der Mutter getrennt, um Zähne, Ringelschwanz und Hoden erleichtert in Massentierhaltung bis zum Schlachtgewicht von 120 kg gemästet wurde, um dann in einen LKW gepfercht voll Todesangst durch einen engen, gekachelten Gang getrieben zu werden, an dessen Ende eine Stromzange wartete, die ihm einen hoffentlich betäubenden Schock versetzten (was nicht bei allen Tieren klappte), bevor es an den Hinterläufen aufgehängt, von Händen, die ohne jegliches Zutun des Bewusstseins agierten, da der Mensch hinter den Händen sich längst von dem was er dort tat geistig abgekapselt hatte, um das Messer nicht mit in die Baracke hinter einem verfallenen Bauernhof, in der er mit zwölf anderen Arbeitern wohnte und seine einzige Erinnerung an Zuhause ein vergilbtes Bild seiner Frau und der drei Kinder war, zu nehmen und bei sich selbst anzusetzen, durch einen Stich ins Herz getötet, in heißem Wasser zum Entfernen der Borsten abgebrüht, und anschließend fein säuberlich zerlegt, verpackt und an Discounter verschickt wurde.

Endprodukt der Massentierhaltung

In einem solchen Discounter befand sich Monika in diesem Moment. Und bis zu diesem Moment hatte sie mit der Gewohnheit, mit der man den Weg zur Arbeit zurücklegt, den Einkaufswagen durch die Gänge geschoben und die gleichen Produkte, die sie immer kaufte, aus dem Regal genommen. Nun war ihre roboterhafte Routine durch die Stimme eines Mannes unterbrochen worden, von dem sie nicht hätte sagen können, ob er bereits vorher neben der Kühltheke gestanden, sich von hinten an sie herangeschlichen hatte oder ob er einfach auf einmal im Raum aufgetaucht war wie ein Geist.

Monika machte einen Schritt zur Seite, hielt die Plastikschale mit den Schnitzeln wie einen Zweihandschild vor sich und blickte den Mann an. Nicht nur seine Stimme, auch sein glattes weißes Haar erinnerte Monika an Saruman. Damit endete die Ähnlichkeit mit dem Filmzauberer. Das Gesicht runder und weicher, seine braunen Augen hätten auch die eines Neunjährigen sein können, der sich keine Gelegenheit entgehen ließ, einen Streich zu spielen. Der Mann trug auch keinen weißen Zauberermantel, sondern einen sandfarbenen Leinenanzug, der locker an seinem sehnigen Körper hing.

„Wie bitte?“, fragte Monika.

„Das sollten Sie nicht kaufen“, wiederholte der Mann und zeigte auf die Schnitzelpackung.

„Die kaufe ich immer.“

„Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was für ein Leben die Tiere führen, die Sie da essen?“

Monika blickte auf die Packung in ihrer Hand, wendete sie ein wenig nach links und rechts und schüttelte nur den Kopf. Ihr Kopfschütteln war nicht nur Antwort auf die Frage, sondern mindestens ebenso sehr Verwunderung darüber, von einem wildfremden Mann im Discounter darauf hingewiesen zu werden, was sie kaufen sollte und was nicht.

„Tun Sie das, dann werden sie sich in Zukunft bei ihrem Einkauf anders entscheiden.“

„Ja, vielleicht“, sagte Monika und lächelte verlegen. Sie legte die Schnitzelpackung zurück in die Kühltruhe, nahm eine Packung Steaks heraus, bei denen die Fleischscheiben mit so viel Marinade ummantelt waren, dass eigentlich egal war, was sie umhüllte, und legte sie hastig in den Einkaufswagen, wobei sie die andere Hand über die Verpackung hielt, als könnte sie dadurch vor dem Mann verbergen, was sie in ihren Einkaufswagen legte.

Sie konnte nicht sagen, warum sie die Schnitzel zurückgelegt hatte und auch nicht, warum die Reaktion des Mannes für sie überhaupt von Belang war. Vermutlich war der Tausch der Schnitzel gegen Steaks nicht das gewesen, was der Mann sich mit seinem Satz erhofft hatte. Aber er hatte etwas in Monika ausgelöst.

Monika drehte sich schnell um und ging direkt zur Kasse. Währenddessen blieben ihre Gedanken bei dem Mann an der Kühltheke. Warum hatte er ihr das gesagt? Was wollte er ihr überhaupt sagen? Und was bildete der sich überhaupt ein? Erst als sie die Bankkarte aus ihrem Geldbeutel suchte, sprangen ihr ihre Gedanken hinterher und landeten wieder in ihrem Kopf bei dem, was sie gerade tat.

Tiere sind Lebensmittelwesen

Der Verkehr auf dem Heimweg floss zäh wie Honig. Da das Einzige, worin sich die endlosen Reihenhäuser unterschieden, die weißen Ziffern auf den blauen Tafeln mit der Hausnummer waren, hatte man das Gefühl, überhaupt nicht voranzukommen. Irgendwo zwischen Langeweile, Frust und Ärger fiel Monika ein Graffito ins Auge. Jemand hatte ein feistes, lächelndes Schwein an die Hauswand gesprayt und daneben Tiere sind Lebensmittel geschrieben, dann aber nsmittel durchgestrichen und wesen darübergeschrieben, sodass es nun hieß: Tiere sind Lebewesen. Sofort hatte sie wieder die Stimme des alten Mannes im Ohr.

Das sollten sie nicht kaufen. Erst jetzt schloss sich die Verknüpfung in ihrem Kopf. Vor lauter Überraschung darüber, dass sie während ihres Einkaufs einfach von der Seite angesprochen worden war, hatte sie die Schnitzel nicht mit der Frage, was für ein Leben die Tiere führten, in Zusammenhang gebracht.

Sie war der Alchemie der Modernen Ernährung unterlegen. Man nehme eine klimatisierte Markthalle, eine Kühltruhe und eine Plastikverpackung, hülle das alles um in Form geschnittene Teile eines Tieres, entferne Bauernhof, Schlamm, Exkremente, Blut und Angstschweiß möglichst weit aus dem Blickfeld und fertig war die perfekte Illusion des vollkommen leidlosen Fleischkonsums. So verschwand die Vernichtungsmaschinerie der Massentierhaltung hinter einem Schutzzaun aus Selbstbedienungstheke und Landidyll-Werbeprospekt.

Während es dem Mann im Supermarkt nicht gelungen war, hatte das simple Graffito für einen kurzen Augenblick den Schleier der modernen Konsumwelt von Monikas Augen gezogen und sie die Wahrheit dahinter klar sehen lassen.

Ein paar Sekunden blitzten Bilder von zusammengepferchten Schweinen in ihrer eigenen Scheiße, das verzweifelte Quieken von Ferkeln, die beim Saugen von den Zitzen der Muttersau gerissen werden, der Geschmack vom Eisen des Blutes, das beim Schlachten literweise aus dem aufgeschlitzten Leib strömte, in Monikas Kopf auf. Ein kurzer Moment der Erkenntnis, zu kurz, um sie zu bekehren, da sie selbst den Schleier sofort wieder vorzog, das Radio laut drehte und bewusst etwas anderes denkend nach Hause fuhr.

Das Tier ist schnell bei dir

Zuhause angekommen fiel ihr Blick auf die Uhr, die schon kurz vor sechs zeigte. Zeit zu kochen. Herd an, Pfanne auf Herd, Öl in Pfanne, Steaks aus der Packung, die von Marinade tropfende Plastikhülle mit in den Müll, Steaks in Pfanne, braten lassen. Kartoffelsalatpackung aufmachen – selbst machen dauert viel zu lange –, Kartoffelsalatpackung mit Löffel auf Tisch. Blattsalat und Tomaten waschen, schneiden, ab in die Schüssel. Fertigdressing bereitstellen. Steaks wenden, braten lassen. Kurz nach sechs, Essen fertig. Fröhliche Feierabendküche.

„Essen ist fertig“, rief Monika so laut, dass sie überall im Haus zu hören war. Sie stellte die Pfanne neben dem Kartoffelsalat mit Untersetzter auf den Tisch, goss das Dressing über den Salat, mischte kurz durch, stellte die Schüssel auf den Tisch.

Florian schlurfte in die Küche, setzte sich wortlos an den Tisch, nahm seine Gabel, stach in das größte Steak in der Pfanne und hievte es auf seinen Teller.

„Ketchup!”, sagte er.

„Hallo erstmal, mein Sohn. Schön, dass du da bist. Kannst du bitte auch in ganzen Sätzen sprechen?“, sagte Monika mit einer Stimme als würde man eine 45er Platte mit 33 Umdrehungen abspielen.

„Ich hol’s mir selbst”, nuschelte Florian und stand auf, um zum Kühlschrank zu gehen.

Holger und Sophie kamen auch. Wenige Augenblicke später saß die ganze Familie am Esstisch.

Während Holger und Florian wie ausgehungerte Bären zugriffen, blickte Sophie auf den Tisch als hätte jemand den Inhalt der Biotonne darauf verstreut.

„Stimmt was nicht?“, fragte Monika und seufzte.

„Ich esse kein Fleisch“, antwortete Sophie.

„Das weiß ich“, sagte Monika. „Deswegen habe ich Salat gemacht.“

„Toll, danke Mama. Für mich hast du wieder nur Beilagen.“

„Aber Salat ist doch keine Beilage.“

„Schon mal das Wort Beilagensalat gehört?“

„Ja. Nimm mehr davon, dann ist es eine Hauptspeise.“

Schweine sind Lebewesen kein essen

Sophie schnaubte und nahm sich jeweils eine große Portion von den beiden Salaten. Dann sagte sie:

„Weißt du was Mama? Hannah hat mir erzählt, dass sie mit ihren Eltern beim Love Earth Festival war. Dort gibt es nur veganes Essen. Da können wir hingehen, dann kannst du sehen, was man alles tolles kochen kann, ohne einem Tier zu schaden.“

Tiere essen oder Tieressen essen

„Eigentlich ist es doch Tierquälerei“, sagte Florian und schluckte noch ein Stück Steak hinunter, bevor er weitersprach, „wenn du den Tieren das Essen weg isst.“ Er grinste stolz, richtete sich auf, als hätte er eine eins in Mathe nach Hause gebracht und wartete nun auf das Lob und Schulterklopfen von Holger. Da sich Stolz und Häufigkeit von dummen Sprüchen und Einsen in Mathe aber umgekehrt proportional zueinander verhielten, wobei die Häufigkeit von Einsen in Mathe bei Florian gegen Null tendierte, wartete er vergebens auf ein Schulterklopfen.

Stattdessen erntete er von Sophie einen Blick, bei dem in einem achtzigerjahre Science-Fiction Film Laserstrahlen aus ihren Augen geschossen wären. Zu Florians Glück waren sie nicht in einem achtzigerjahre Science-Fiction Film.

Bevor der Kampf seine Steigerung in der nächsten Runde erfahren konnte, brach Monika ihn ab:

„Das ist eigentlich eine gute Idee. Ich könnte da wirklich ein paar Anregungen brauchen. Vielleicht finden wir dort auch ein gutes veganes Kochbuch.“

„Wirst du dann auch Veganerin?“, fragte Sophie.

Monika schaute verlegen, als müsste sie ein Aufklärungsgespräch mit ihrer Tochter führen.

„Ich glaube nicht. Aber vielleicht esse ich weniger Fleisch“, sagte sie. Sophie entgegnete nichts, sank aber zusammen, als hätte sie die Puppe, die sie sich mehr als alles andere gewünscht hatte, doch nicht zu Weihnachten bekommen.

Monika nahm ein Stück ihres Steaks in den Mund. Es war zäh wie ungekochte Bambussprossen. Monika hatte das Gefühl, dass sich das Fleisch in ihrem Mund mit jeder Kaubewegung vermehrte. Nach und nach wich das alles übertüchende Paprikaaroma, das an Kochversuche von Jugendlichen erinnerte, die ihre unzureichende Expertise in Sachen Gewürzauswahl mit der doppelten Menge der selbigen zu kompensieren versuchten, dem fahlen Geschmack ausgelaugten Fleisches, das nicht genug Lebenszeit hatte, die Muskeln aus ordentlichen Proteinen aufzubauen und dies mit einer großen Menge Wassereinlagerung kompensierte, die während des Bratens verlorengegangen war und ein Stück Gewebe zurückließ, bei dem selbst herstellerseitig die einzige Hoffnung war, dass es verzehrt werden würde, bevor die Verwesung so weit fortgeschritten war, dass es gesundheitlich für denjenigen, der sich die tierischen Überreste einverleibte, ebenfalls bedenklich wurde hinsichtlich eines vorzeitigen Ablebens. Monika trank einen Schluck Wasser, um den fasrigen Batzen in ihrem Mund hinunterschlucken zu können.

„Wollen die beiden Herren uns begleiten?“, fragte sie.

„Nope, ich muss leider zum Fußball. Sonst würde ich natürlich gerne mitkommen.“, sagte Florian.

„Ja, natürlich“, sagte Monika und blickte Holger erwartungsvoll an.

„Gibt es da Roboter?“, fragte dieser.

„Ach, Holger“, sagte Monika.

„Schon gut, Mami“, sagte Sophie, „zu zweit können wir viel mehr probieren.“

„Ja, genau“, sagte Monika zustimmend und zwang ihr Gesicht zum Lächeln. Dass sie gedacht hatte, sie könnte Anregungen holen, was sie für Sophie kochen könnte und selbst Tiere essen, statt deren Essen, wie Florian es ausgedrückt hatte, sagte sie nicht.

Sie sah Stände voll unangemachten Salates vor sich, krumme Karotten, schrumpelige Paprika, spürte steinharten Buchweizen zwischen ihren Zähnen stecken, Grünkernbratlinge, die staubten, wenn man hineinbiss und gegen die ein Schluck Wasser ein wahres Geschmackserlebnis bereithielt.

Oh Gott, worauf habe ich mich da eingelassen?

Monika blickte auf ihr Steak. Zumindest heute noch ordentliches Essen! Sie spießte die Gabel in das Fleisch, sägte ein ordentlich großes Stück herunter, steckte es in den Mund und kaute voll Vorfreude auf den herrlichen Umamigeschmack eines guten Tieres, der jedoch jäh enttäusch wurde, als wieder die viel zu scharfe Marinade einer Mischung aus Eisen, Schweinestall und Verwesung wich.

Vielleicht ist Tieressen doch keine so schlechte Alternative.

Massentierhaltung live erleben

Am nächsten Morgen fuhren Sophie und Monika mit ihren Fahrrädern zum Love Earth Festival. Ein Plakat an einer Staßenlaterne mit dem markanten Love Earth-Logo, das unseren blauen Planeten als Herz geformt darstellte, zog Monikas Aufmerksamkeit auf sich. Darauf war auf der einen Seite ein Schwein, auf der anderen ein Hund zu sehen, die beide mit den traurigen Augen eines Kindes, das ein Spielzeug nicht bekommt, in Richtung des Betrachters blickten. Friend or Food? stand dazwischen. So hatte sie Tiere noch nie betrachtet.

Wie kommt es, dass wir manche Tiere in Ställe sperren, mästen, schlachten, zerstückeln und essen, während wir andere Tiere zum Teil besser behandeln als unsere Kinder? Sie fand keine sinnvoll Antwort darauf.

Am Ortsende zweigte sich die Ausfallstraße in zwei kleinere Straßen, breit genug für landwirtschaftlichen Verkehr, zu eng für Gegenverkehr. Auf der einen Seite waren riesige Stallanlage zu erkennen, auf der anderen nichts als Felder. Welche Richtung sollten sie einschlagen? Nirgendwo war ein Hinweisschild zu sehen.

Monika sah auf die Höfe der Großbauern mit ihren Hühner-, Kuh- und Schweineställen, die mehr mit einem Industriegebiet als mit dem Bild von Landleben zu tun hatten, das noch in den Köpfen der meisten Menschen verankert war.

Unschlüssig rollte sie ein paar Meter in Richtung der Felder, als ihr ein Mann mit langen grauen Haaren in einem lockeren Leinenanzug entgegenkam.

„Sie sind auf dem richtigen Weg“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln und nickte ihr dabei höflich zu.

„Gut, danke!“ rief Monika und begann wieder fester in die Pedale zu treten.

„Nett von dem Mann, dass er uns geholfen hat“, sagte Sophie.

„Ja“, stimmte Monika zu.

War das nicht der Mann aus dem Supermarkt? Woher wusste er wohin sie wollten? Und wo war er eigentlich auf einmal hergekommen?

Nachdem sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, fuhren sie in gemächlichem Tempo auf einer schmalen Straße zwischen den Feldern. Grün leuchtende Zucchini lugten prall unter ihren ausladenden Blättern hervor, Zwiebeln verströmten ihr markantes süßlich scharfes Aroma, die Maispflanzen standen übermannsgroß still neben der Straße wie Armeetruppen, untergeackerte Erdbeerpflanzen weckten Sehnsucht nach dem zu Ende gehenden Sommer, während kleine, unreife Kürbisse Vorfreude auf den nahenden Herbst machten. Die Farbe der Landschaft wechselte allmählich vom lebendigen Grün zu einem Orangerot, das strahlte, als wollte es noch das bisschen gespeicherte Wärme an seine Umgebung abgeben, bevor es von brauner Kargheit und kaltem Eisblau abgelöst werden würde.

Wie eine Trabantenstadt bauten sich vor ihnen die Zelte des Festivals auf. Vor dem Eingang gab es einen Fahrradparkplatz.

„Hoffentlich finden wir unsere Räder wieder“, sagte Sophie und zeigte auf die vielen hundert, die bereits abgestellt waren.

„Denke schon“, sagte Monika und wunderte sich, dass nirgendwo ein Auto zu sehen war. Ökos halt.

Als sie in Richtung Eingang gingen, kamen sie an einer Programmtafel vorbei, wobei es sich eigentlich nicht um eine Programmtafel handelte, sondern um eine Stalltür. 100% recycelte Stalltür, gestiftet von unseren mutigen Helden der Organisation Freiheit für alle Tiere war ganz unten zu lesen. Am oberen Ende prangte wieder das Logo, darunter war das Motto des diesjährigen Festivals gedruckt: Massentierhaltung Live erleben – Erfahre, wie es Tieren wirklich geht.

Massentierhaltung bedeutet Massenpharmazie

Monika schluckte, als sie sich die einzelnen Programmpunkte anschaute. Klanginstallationen aus Hühnerställen, Vorträge zum Thema Massentierhaltung und Klima, begehbare Ställe, Stallüberwachungsvideos, eine Skulptur aus Medikamenten einer industriellen Hühnerzucht und Virtual Reality Massentierhaltungserlebnis waren darunter. Klingt nicht gerade nach Spaß, dachte sie spürte, wie Sophie sie an der Hand packte und mit sich auf das Festivalgelände zog.

„Wow, Mama, schau dir das an!“, rief Sophie und zeigte aufgeregt auf ein über zwei Meter großes Huhn, das aus hunderttausenden kleinen Tabletten und Fläschchen bestand. Massentierhaltung = Massenpharmazie. Wochenverbrauch einer Hühnerzucht mit 100.000 Hühnern stand auf einem Schild, das an dem Huhn angebracht war. Und sowas essen wir mindestens einmal in der Woche? Monika wurde schlecht.

„Wahrscheinlich verdient die Pharmaindustrie mehr mit Massentierhaltung als die Bauern“, sagte Monika.

„Ich verstehe nicht, warum die Leute so scharf darauf sind, das zu essen!“, sagte Sophie.

„Lass uns weitergehen“, sagte Monika.

„Da, das Zelt sieht interessant aus“, sagte Sophie und zeigte auf ein beigefarbenes Zelt, das etwa fünf auf zehn Meter maß.

Hinter dem Zelteingang wurden sie von einer jungen Frau mit aschblondem Zopf, dem dunkelblauen Love Earth-Festival T-Shirt, einer Wollhose in verschiedenen Grüntönen und Trekkingschuhen mit einem freundlichen Lächeln begrüßt.

„Herzlich willkommen im Hühnerstall“, sagte die Frau.

„Einen Hühnerstall habe ich mir immer andres vorgestellt“, sagte Monika und zeigte auf die glatten schwarzen Kästen, die ringsum in dem Zelt aufgestellt waren. Jede davon gut zwei Meter hoch und etwa einen Quadratmeter in der Fläche.

Die Frau nickte zustimmend und sagte:

„Das ist richtig. Es ist immer so schwierig, die Besucher aus den Käfigen der Legehennen wieder zu befreien.“ Sie machte eine kurze Pause für Lacher. Monika lachte eher höflich, da sie nicht ganz verstanden, was daran witzig war.

„Hier geht es nicht um den Käfig an sich, sondern um den Klang im Inneren einer Legehalle. Wir haben Mikrophone in einer solchen installiert. Die Ergebnisse könnt ihr euch in diesen Kammern anhören. Ihr könnt so lange drinbleiben, wie ihr wollt. Oder besser: Ihr könnt jederzeit raus, wenn es euch zu viel wird.“

Der Klang der Legebatterie

„Das müssen wir ausprobieren, Mama“, sagte Sophie. Monika nickte nur.

Zögernd ging sie auf eine der Kabinen zu, öffnete die Tür. Im Inneren war es wie in einer Dunkelkammer.

„Kein Licht?“, fragte sie die junge Frau.

„Nein, es geht darum, sich ganz auf das Hören zu konzentrieren.“

„Okay“, sagte Monika, ging hinein und schloss die Tür. Etwa zwei Sekunden blieb es still, bis sie das Boag eines Huhns hörte. Boag, boag, boag folgte, dazwischen war ein scharrendes Geräusch zu hören, das Monika an das Unkrautentfernen zwischen den Pflastersteinen in der Einfahrt erinnerte. Das Scharren wurde immer lauter, überall um sich herum hörte Monika Kratzgeräusche. Das Kratzen war direkt neben ihr, vor ihr, hinter ihr.

Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Boag, hörte sie wieder. Boag, boag, boag. Es folgte ein knarrendes Geräusch, das wie das langsame Öffnen einer Holztür in einem Horrorfilm klang.

Hühner in Massentierhaltung
Quelle: Merkur.de

Nun war es nicht mehr ein Huhn, sondern immer mehr stimmten in das Boag ein. Es hörte sich an wie ein Chor, in dem jeder sein eigenes Lied singt.

Die Kakophonie aus Boag, Scharren und Knarren wurde ergänzt durch ein schnelle Tztztztz. Die Geräusche kamen aus allen Richtungen wild durcheinander. Tztztztz vor ihr und links, Knarren hinten und vorne, Boag links und rechts, dann wieder vorne hinten, sogar von oben und unten schienen die Geräusche zu kommen. Das Scharren war ringsum zu hören.

Es gab keine Pause. Ununterbrochen waren die Geräusche da. Allgegenwärtig. Es fühlte sich an, als würde Monikas Körper durch die Schallwellen der Hühnergeräusche in Schwingungen versetzt. Die Schwingungen waren nicht entspannend wie das sanfte auf und ab der Wellen, wenn man auf einer Luftmatratze im Meer treibt, sondern durcheinander wie die wildesten Stücke von John Cage. Irgendwie passend im Käfig. Die Laute der Hühner drangen in die Zellen ein, drückten und zerrten in alle Richtungen.

Monika hatte das Gefühl, sie würde gleichzeitig ganz eng in eine große Wolldecke gewickelt und von tausenden winzigen Haken auseinandergezogen. Ihre Atmung wurde schneller, ihr Puls kam in die Abbruchregion eines Belastungs-EKGs, sie spürte das Pulsieren ihres Blutes in allen großen Gefäßen, in den Beinen, den Armen, am Hals. Selbst ihr Gehirn schien zu pulsieren. Ihre Atmung beschleunigte sich weiter. Sie begann zu hecheln. Die eingeatmete Luft gelangte nicht mehr in die Lunge, wurde sofort wieder ausgeatmet.

Der Raum begann sich zu drehen. Monika musste sich an den Wänden abstützen. Der Raum drehte sich schneller. Lichtblitze tauchten vor ihren Augen auf. Gelb, rot, blau.

Raus. Ich muss hier raus. Nur raus. Monika drehte sich um. Suchte nach dem Türgriff. Fand ihn nicht. Hilfe! Nur noch Farbblitze vor den Augen. Kein Oben und Unten mehr. Nur Rotation im Raum.

Dann ging die Tür auf und das Tageslicht fiel in die Box. Schlagartig landete Monika wieder auf den Füßen und stolperte hinaus, direkt in die Arme der jungen Frau.

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Haltung im Massenstall nicht das einzige Problem

„Geht es Ihnen gut?“, fragte diese.

„Ja, danke, geht schon. Mir war nur ein wenig schwindlig“, antwortete Monika.

„Eindrucksvoll, was allein die Töne aus einem Massenstall für Hühner bewirken können, nicht wahr?“

„Allerdings“, sagte Monika, die noch immer nach Atem rang.

„Stell dir mal vor, wie es den armen Hühnern geht, die das den ganzen Tag aushalten müssen“, sagte Sophie.

„Ihr ganzes Leben!“, sagte die junge Frau.

„Das will ich mir gar nicht vorstellen“, sagte Monika.

„Die Tiere haben leider keine andere Wahl, solange die Menschen Eier wollen“, sagte die junge Frau.

„Aber es gibt doch auch Freilandhaltung“, saget Monika.

„Ja, aber wie viele Eier können so produziert werden? Es sind ja nicht nur die Eier, die sie noch mit Schale kaufen. Die meisten Eier gehen in die Industrie und landen in abgepackten Kuchen, Nudeln oder Fertiggerichten. Dann wäre ein großer Teil Deutschlands Hühnergehege. Außerdem wären die Hühner immer noch eingesperrt und müssten vor allem immer noch übermäßig viele Eier produzieren. Heutige Hennen legen 300 Eier pro Jahr. Vor der Ausbeutung der Tiere waren es 20 bis 30. Das sind körperliche Höchstleistungen, die den Hühnern abverlangt werden.“

300 Eier pro Jahr! Monika dachte an ihre Schwangerschaften und stellte sich vor wie es wäre, ein Kind nach dem anderen zu bekommen. Zwanzig, fünfundzwanzig Kinder. Ein menschliche Gebärmaschine. Ihr Körper schüttelte sich als wollte er die grausige Vorstellung loswerden wie ein nasser Hund das Wasser in seinem Fell.

„Siehst du Mama, ich sag doch immer, dass auch vegetarisches Essen nicht gut für die Tiere ist“, sagte Sophie.

„Da hast du Recht, Kleine“, sagte die junge Frau und hob die Hand zum High Five. „Du bist auf einem guten Weg!“

Sophie lächelte mit leicht geneigtem Kopf, schlug dann aber doch ein.

„Gut, danke. Lass uns weitergehen“, sagte Monika, um die Rekrutierung ihrer Tochter für eine Tierrechtsaktivistengruppe zu verhindern. Zumindest für den Moment.

Du musst ein Schwein sein in dieser Welt

Monika und Sophie flanierten über das Festivalgelände, vorbei an allerlei Verkaufsständen. Vegane Kleidung aus Bioanbau wurde angeboten, Gewürze, speziell für die vegane Küche, Küchenutensilien aus Holz, nachhaltige Aufbewahrungs- und Transportbehältnisse für Lebensmittel, Flaschen aus Recyclingmaterial, Schmuck und Accessoires aus Naturmaterialien und Bücher über vegane Küche und ein nachhaltiges Leben ohne Plastik.

Gut ein Viertel des Festivalgeländes war für Essenstände vorbehalten. Diese waren ringsum eine Bühne aufgestellt, sodass sich die Besucher jederzeit mit Essen und Getränken versorgen konnten, während sie Vorträge, Podiumsdiskussionen oder Live-Bands verfolgten.

Das Speisenangebot deckte alle Weltküchen ab, von den europäischen Länderküchen Deutschlands, Griechenlands, Frankreichs, Spaniens und Italiens über asiatische Küche aus China, Vietnam, Thailand über amerikanische Angebote aus den USA, Mexiko, der Karibik und Peru bis hin zu afrikanischen Speisen aus Marokko, Ägypten, Nigeria, Namibia und Südafrika. Alles vegan und bio. Kein Tier muss für unser Essen leiden stand auf einem großen Banner, das über die ganzen Essenstände gespannt war.

„Wahnsinn!“, rief Sophie, „So viele verschiedene Gerichte. Hab ich doch gesagt, dass veganes Essen nicht nur Beilagensalat ist!“

Monika schluckte den Ärger über den Seitenhieb hinunter und fragte:

„Was möchtest du essen?“

Während sich Sophie ein Curry mit Kichererbsen, Spinat und Kürbis holte, ging Monika zum Stand der US-Küche anbot und bestellte Pulled Austernseitlinge. Bei einem der vergangenen Grillabende bei Cornelia und Klaus, die selbstredend von Mengen an Fleisch dominiert worden waren, die den Eiweißbedarf aller Anwesenden für zwei Wochen hätten abdecken können, hatte sie zum ersten Mal Pulled Pork, also stundenlang bei niedriger Hitze gegartes, den Fasern nach zerrissenes, deswegen Pulled, und mit BBQ-Sauce mariniertes Fleisch, das mit Krautsalat (natürlich echt amerikanischem Coleslaw mit viel Majo) in einer knusprigen Semmel serviert wird. Auf die Hand für Zwischendurch, Kalorien für drei Mahlzeiten, aber herrlich in Konsistenz und Geschmack. Genau das, was Monika und ihre Freunde liebten.

Genau das wurde hier auch serviert. Nur, dass das Schweinefleisch gegen Austernseitlinge und die Majo durch vegane Majo ersetzt wurden. Skeptisch Biss Monika hinein. Der Knack der Semmel, die Frische des Coleslaws, die Mischung aus Raucharoma, Süße und Umami, der volle Biss der Pilze. Kaum hatte sie den ersten Bissen geschluckt, biss sie ein zweites Großes Stück ab. Der Genuss stand den beim Grillabend in nichts nach – und das ganz ohne tierische Zutaten! In Monika öffnete sich ein kleines Fenster und gab den Blick auf eine Welt voll Genuss allein aus pflanzlichen Zutaten frei. Sie wollte aus dem Fenster in jedem Fall eine Tür machen. Ob sie diese dauerhaft durchschreiten würde, wusste sie noch nicht.

Fühle dich sauwohl in der Masse

Hinter den Essensständen stand wieder ein Informationszelt, etwas größer als das mit der Klanginstallation aus dem Massenstall. Ein Schweineleben stand über dem Eingang.

„Lass uns da reingehen, Mama“, sagte Sophie. Monika atmete hörbar tief ein.

„Eigentlich hab ich nach der Hühnererfahrung genug.“

„Aber du musst doch auch wissen, wie es den Schweinen geht!“

„Muss ich das?“

„Ja, natürlich, komm!“, sagte Sophie und zog ihre Mutter an der Hand.

Seufzend folgte Monika ihrer Tochter.

„Hey, cool, dass ihr da seid, kommt rein“, begrüßte sie ein junger Mann, der Monika mit seinem zerzausten Haar und seiner dünnen Statur an Pampasgras erinnerte.

„Wow, so eine wollte ich schon immer ausprobieren“, sagte Sophie und griff nach einer der VR-Brillen, die auf dem Tisch vor ihnen lagen.

„Ja, die sind super“, sagte der Pampasgrasmann, „wobei man mit denen auch angenehmere Dinge machen kann als das hier.“

„Und ich dachte, wir hätten das Unangenehme für heute schon hinter uns“, sagte Monika.

„Ihr wart also schon ein Huhn?“, fragte der Mann. Monika und Sophie nickten. Der Mann grinste. „Das ist doch gar nichts. Hier bei mir könnt ihr euch sauwohl fühlen.“

„Was auch immer das heißen mag“, sagte Monika.

„Das wirst du gleich sehen“, sagte er, nahm eine VR-Brille und reichte sie Monika.

„Du hast ja schon eine“, sagte er zu Sophie. „Geht in eine der Gitterboxen und setzt die Brillen auf.“

Vor Ihnen waren Gitterboxen mit einer Grundfläche von etwa 60 Zentimeter mal ein Meter. Der Boden bestand aus einem Plastikgitter, das an einen unförmigen Backofenrost erinnerte.

„Das sind aber keine echten Schweineboxen, oder?“, fragte Sophie.

„Nein, die von den Schweinen sind natürlich länglich. Aber wir wollten euch nicht auf alle Viere zwingen. Das reicht so schon.“

„Ich glaube, ich schau dir lieber zu“, sagte Monika und reichte dem Pampasgras die VR-Brille.

„Ach, Mama!“, rief Sophie.

„Keine Angst, es passiert nichts“, sagte der Mann und wehrte die Brille ab. „Zumindest nicht wirklich.“

„Na dann“, sagte Monika und zwänge sich in die Box.

Der Mann Schloss die Türen hinter ihnen, sodass sie an vier Seiten von Gittern umgeben waren.

Monika setzte VR-Brill und Kopfhörer auf. Für einen kurzen Augenblick war es um sie herum vollständig dunkel. Sie nahm einen bewussten Atemzug, spürte, wie sie ruhiger wurde.


Mehr spannende und inspirierende Geschichten aus Monikas Leben findest du in meinem Buch Glück im Moment.


Aus der Perspektive des Schweins

Es wurde hell. Das erste, das Monika sah, war ein Schweinerüssel, allerdings nicht wie man ihn normalerweise sieht, sodass er an eine Steckdose erinnert, sondern aus der Perspektive des Schweins. Direkt vor dem Rüssel war eine Betonrinne, etwa zwanzig Zentimeter breit, der Boden mit einer bräunlichen Flüssigkeit bedeckt. Sie hob den Blick ein wenig und sah gegenüber Schweine, die ebenfalls hinter einer solchen Rinne standen, eingepfercht in einen Käfig aus Metallstäben, kaum größer als sie selbst. Umfallen konnten die Schweine vermutlich nicht.

Monika wendete den Kopf nach links und stieß mit der VR-Brille an die Gitterstäbe. Für sie sah es aus, als wäre es ihr Rüssel gewesen. Sie wich zurück, drehte den Kopf erneut, etwas vorsichtiger diesmal. Sie konnte kein Ende der Reihe der Schweine ausmachen. Eines am anderen stand eingepfercht in eine Gitterbox.

Schweine in Massentierhaltung
Quelle: GEO

Sie blickte nach rechts. Etwa zehn Schweine waren noch in der Reihe. Weiter vorne war die Aufzuchtstation. Muttersauen lagen in ähnlichen Gitterboxen, die aber noch kleiner schienen. War die Box überhaupt hoch genug, dass die Schweine sich hätten aufrecht hinstellen können? Waren sie dazu überhaupt noch in der Lage?

Sie schienen völlig apathisch, lagen nur da, reglos, der Blick leer, wie der Tausend-Meilen-Blick von Soldaten, die äußerlich womöglich unversehrt, aber innerlich gestorben aus einer Schlacht heimkehren und durch alles und jeden hindurch in die Ferne blickten. Monika hatte einen solchen Blick im Bild Two Thousand Yard Stare des US-Malers Thomas C. Lea gesehen. Offenbar konnten nicht nur Menschen innerlich zerbrechen.

Acht Ferkel kämpften wild vor der Muttersau um den besten Platz an den Zitzen, sprangen übereinander, rempelten, bissen, traten. Nicht selten blieben sie dabei in einer der Spalten im Boden hängen, durch die ihre Fäkalien abfließen sollten.

Die Natur lässt sich nicht gut in Massen halten

Ein helles Lichtdreieck fiel in den Raum. Die Ferkel flüchteten wie Vampire, versuchten sie sich dem Schein zu entziehen, wollten sich hinter ihrer Mutter verstecken. Das Quieken unterschied sich nicht von den Angstschreien kleiner Kinder. In Monika löste es die gleichen Gefühle aus, doch sie konnte ihnen nicht helfen.

Sie sah, dass es nicht die Sonne war, vor der die Ferkel flüchteten, sondern der Bauer, dessen olivgrüne Gummistiefel bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch erzeugten, wenn sie das Gemisch aus Tierexkrementen, das noch nicht den Weg in die Spalten des Bodens gefunden hatte, zur Seite spritzen ließen. Sein Bauch und sein Gesicht waren so rund, als hätte man Bälle aufeinandergestapelt, wobei das matte Grün seiner PVC-Latzhose am Bauch einen seltsamen Kontrast zu seinem prallroten Gesicht bildete. Seine grobporige Nase schimmerte an den Flügeln violettblau, sein Atmen klang wie ein Blasebalg.

Er ging auf die Ferkel zu, breitete die Arme aus, um sie daran zu hindern, an ihm vorbei zu huschen. Mit seinem wankenden Gang und der verschlammten Gummihose sah er aus wie das Monster aus dem Sumpf. Aus Sicht des Ferkels war er auch ein Monster.

Als er nah genug war, beugte er sich schnell nach unten und griff eines der Ferkel. Das Ferkel schrie laut auf, wandte sich, strampelte wild mit den Beinen, biss um sich, konnte sich aber den Pranken des Bauern, die so groß waren wie die XXL-Schnitzel, die einmal aus den Schweinen werden sollten, nicht entziehen.

Der Bauer steckte sich das Ferkel unter einen Arm, nahm es in den Schwitzkasten. Er ging zu einem kleinen Tisch, von dem er ein längliches Gerät nahm, das Monika an Holgers Multifunktionswerkzeug erinnerte. Das Kabel steckte in einer vergilbten, mit Spinnweben überzogenen Steckdose, am vorderen Ende war ein kegelförmiger Bohrer aufgesetzt. Wie beim Zahnarzt, nur viel größer.

Aber er erfüllte den gleichen Zweck. Dieser Bohrer wurde aber nicht behutsam und sorgfältig eingesetzt, wie es die Zahnmediziner machen, sondern mit der routinierten Geringschätzung, mit der man Unkraut jätet.

Mit der Linken griff der Bauer so um den Unterkiefer des Tieres, dass er ihm das Maul aufdrücken konnte, mit der Rechten schaltete er den Bohrer an. Ein lautes Surren mischte sich unter das panische Quieken der Ferkel und das gleichgültige Grunzen der anderen Schweine.

Das Surren wurde von einem hellen Schleifgeräusch übertönt, als der Bauer den Bohrer an den Zähnen dies Ferkels ansetzte. Das Ferkel strampelte wild mit den Hinterläufen, wollte fliehen, wollte weg, doch es gab keinen Ausweg.

Nach nicht einmal zwei Minuten hatte das Ferkel seine spitzen Eckzähne verloren. Anstatt dass der Bauer das winzige Tier, das zitterte wie ein Welpe, der an einem Januarmorgen vor die Tür gezerrt wird, auf den Boden gesetzt hätte, legte er den Bohrer ab und drehte das Ferkel um. Er nahm ein Gerät, das ähnlich aussah wie das Erste, anstelle des Bohrers aber einen Aufsatz mit zwei gebogenen Stäben, die vorne in einem V zusammenliefen, hatte.

Mit der linken Hand zog er das kleine Ringelschwänzchen des Schweins in die Länge, und setzte das V ein kleines Stück hinter dem Körper des Tieres an.

Monika wollte dem gequälten Tier helfen, wollte verhindern, was gleich passieren würde. Sie wollte schreien, doch aus ihrer Kehle kam nur ein Grunzen. Sie wollte das Ferkel befreien, wollte losstürmen auf den Bauern, doch sie stieß gegen unnachgiebige Metallstäbe. Ihr blieb nichts anderes übrig als mitanzusehen, wie der Bauer dem Ferkel den Schwanz abschnitt.

Sie konnte das Gesicht des Ferkels sehen, das hinten unter dem Arm des Bauern in ihre Richtung sah. In dem Moment, in dem ein Zischen zu hören war, riss das Ferkel das Maul weit auf. Hätte Monika das Ferkel nicht gesehen, hätte sie gedacht, dass ein kleines Baby nach seiner Mutter schreit, ein Baby, das noch nicht versteht, was mit ihm geschieht, das sich nach Liebe und Wärme sehnt und stattdessen Gleichgültigkeit und Schmerz bekommt.

Achtlos ließ der Bauer das Ferkel aus der Umklammerung, hielt es kaum genug, um einen freien Fall zu verhindern, warf gleichzeitig den abgeschnittenen Ringelschwanz in eine schwarze Plastiktonne. Dann machte er sich auf, um das nächste Ferkel zu fangen.

Wie kleine, matte Knöpfe starrten die schwarzen Augen zwischen zu groß wirkenden Öhrchen und der runden Schnauze, die sich leicht im Rhythmus des ruhiger werdenden Atems bewegte in Monikas Richtung. Warum, schienen sie zu fragen. Warum?

Die traurige Wahrheit

Monika nahm die Brille ab, ließ den Kopf nach vorne an das Eisengitter vor sich sinken. Durch einen Tränenfilm konnte sie nichts erkennen. Sie musste zweimal schlucke, bevor sie sich die Augen wischen und sich umdrehen konnte.

„Passiert das wirklich mit den Ferkeln?“, fragte Monika.

„Ja, leider“, saget der Pampasgrasmann. „Zum Glück nicht in allen Ställen. Es gibt immer mehr Tierhalter, die diese Prozedur nur noch in Betäubung vollziehen oder ganz darauf verzichten, weil sie den Schweinen genug Platz lassen, dass die sich nicht gegenseitig die Schwänze abbeißen. Aber auch bei denen sind die Tiere immer noch eingesperrt und werden nach kurzer Zeit geschlachtet.“

„Es geht ihnen also nur weniger schlecht, aber immer noch schlecht“, sagte Sophie.

„So kann man es sagen. Und so lange die Leute nicht Hülsenfrüchte und Gemüse anstatt Schweinebraten und Schnitzel essen, wird sich daran auch nicht viel ändern.“

„Dann sind wir also mit schuld, dass es den Schweinen so schlecht geht“, sagte Monika.

„Du schon, ich nicht“, sagte Sophie.

„Ich sag mal so, jede, die auf Fleisch verzichtet, ist ein Gewinn. Aber es muss sich insgesamt etwas ändern. Es muss normal sein, dass man Gemüsebratlinge statt Fleischpflanzerl ist. Dafür fehlt oft schlicht und ergreifend aber das Angebot. Gleich ob du durch die Stadt gehst oder in einem Freizeitpark bist, es gibt Wiener, Bratwürste, Leberkäse. Die vegetarische Alternative sind oft Pommes. Wir wollen mit dem Festival hier auch zeigen, wie vielfältig die Alternativen sind und vor allem, wie gut sie schmecken.“

„Und die Kunstinstallationen“, fragte Monika.

„Naja, das Essensangebot soll die Leute auf die gute Seite ziehen, die Kunstinstallationen sollen sie zusätzlich schubsen.“

„Das Ziehen gefällt mir besser“, sagte Monika.

„Ich glaube, du hast schon auch einen Schubs nötig“, sagte Sophie und klopfte ihrer Mutter auf die Schulter.

Werde zur Kuh

„Wenn du noch einen Stubs brauchst, dann probiere mal da drüben das Werde zur Kuh aus.“

„Eigentlich habe ich heute schon genug erlebt, wie es den Tieren geht.“

„Naja, das hier war nur eine Simulation.“

„Und was ist bei den Kühen?“

„Dort kannst du wirklich Massentierhaltung erleben.“

„Jetzt bin ich doch neugierig“, sagte Monika.

„Dann lass es uns probieren“, rief Sophie.

Auf dem Weg zum Kuhzelt spürte Monika, wie ihr Herz immer stärker schlug. Die Klanginstallation aus dem Hühnerstall und die VR-Simulation aus dem Schweinestall hatten sie eigentlich schon genug mitgerissen. Warum hatte sie nur gesagt, dass sie neugierig sei? Bevor sie überlegen konnte, was sie Sophie erzählen könnte, um nicht mit in das Kuhzelt zu müssen, begrüßte sie ein älterer Herr am Eingang.

„Werde zur Kuh und erlebe, was es wirklich heißt, wie ein Tier behandelt zu werden“, sagte der Mann mit dröhnender Stimme.

Ich kenne diese Stimme, dachte Monika. Sie blickte den Mann an, erkannte das runde Gesicht, die durchdringenden Augen. Es war der Mann aus dem Supermarkt. Monika zog eine Augenbraue hoch, schüttelte den Kopf.

„Sie?“, sagte sie ungläubig.

„Ja, ich. Warum so überrascht?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht weil ich nicht damit gerechnet habe, Sie so schnell wieder zu sehen.“

„Das Schicksal wollte es so“, sagte der Mann.

Monika wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

„Was können wir hier machen?“, fragte Sophie.

Der Mann beugte sich zu ihr nach unten und sagte: „Hier könnt ihr wirklich erleben, wie es ist, eine Kuh in Massentierhaltung zu sein.“

„Ist das auch so eine VR-Simulation?“

„Nein, das ist echt“, sagte der Mann und zwinkerte Sophie zu. „Ich würde vorschlagen, wir lassen deine Mutter beginnen.“ Sophie ließ die Arme nach unten fallen, wollte protestieren, doch der Mann kam ihr zuvor. „Das ist, wie es sein soll“, sagte er und an Monika gewandt:

„Bitte treten sie ein.“

Er legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie ins Innere des Zeltes. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und Monika erkennen konnte, was im Zelt war, war sie so überrascht als hätte eine Kuh mit ihr gesprochen. Denn da war keine Kuh, auch keine Gitterbox, VR-Brille, Bildschirm oder sonst irgendwas. Das Zelt war vollkommen leer. Außer dem Grasboden und den Zeltwänden war nichts zu sehen. Irritiert drehte sich Monika zu dem Mann um. Dieser legte ihr die Hände auf die Schultern und sagte:

„Schau mir tief in die Augen!“ Er fixierte Monikas Auge mit seinen. Sie konnte sich seinem Blick nicht entziehen. Um seine braunen Pupillen bildete sich ein goldener Ring. Der Ring wurde heller und kräftiger, zeichnete sich immer deutlicher ab, begann zu leuchten. Monika fühlte, dass etwas an ihrem Körper zog. Es waren nicht die Hände des Mannes, vielmehr war es eine Energie, die an ihrem gesamten Körper zog, als wäre sie in einem Strudel, der sie immer weiter in die Tiefe zog.

Ein wahres Kuhleben

„Du bist eine Kuh!“, sagte der Mann. Der goldene Ring in seinen Augen leuchtete nun blendend hell, dennoch konnte Monika den Blick nicht abwenden. Das Licht wurde heller und heller. Der Sog an ihrem Körper wurde immer stärker. Sie wurde zum Licht gezogen.

„Du bist eine Kuh!“

Es riss Monika nach vorne. Um sie herum war nur noch Licht. Nichts als hellgelbes Licht.

„Du bist eine Kuh!“ Die Stimme dröhnte lange nach, bevor sie in der Unendlichkeit verklang.

Wie eine Welle am Strand zog sich das Licht zurück. Was es freigab, war kein Sand, sondern ein Kuhstall.

Anstelle des allesüberstrahlenden Weiß trat durch von Spinnweben und Schmutz an Milchglasscheiben gefiltertes Tageslicht. Vor sich sah Monika eine von weißbraunem Fell überzogene lange Schnauze. War sie doch wieder in der virtuellen Realität gelandet?

Überall um sich herum hörte sie Schmatzen, Rülpsen, Gurgeln und Pupsen unzähliger Kühe. Jede von ihnen eingepfercht in einen engen Gitterstand, kaum größer als die Kuh selbst. Auch um Monika waren Mettalstäbe. Einzig den Kopf konnte sie ein wenig zur Seite bewegen, für den Körper war auf beiden Seiten kein Spielraum. Bei jeder Bewegung stieß sie an die harten Stäbe.

Wieso fühlten diese sich so echt an? Sie stand doch frei im Zelt. Darin war kein Käfig oder Ähnliches. Wie konnte das sein?

Monika hob die Hand, um sich am Kopf zu kratzen. Zumindest wollte sie das. Es gelang ihr nicht. War sie gefesselt? Wieso konnte sie ihre Hand nicht heben? Sie blickte nach unten.

Anstatt der Hand, hob sie einen Huf, der an einem langen, behaarten Bein hing. Wie konnte das sein? Zweifellos hob sie einen Kuhfuß. Was für eine Simulation war das? Es sah für sie nicht nur aus wie ein Kuhfuß, es fühlte sich auch nicht mehr an wie ihre Hand. Sie konnte keinen Finger fühlen, sie konnte die Hand nicht öffnen oder schließen. Es war, als hätte man die Hand zusammengebunden. Oder schlimmer, ihr die Hand abgehakt und sie hätte nur noch den Unterarmstumpf.

Monika wollte an sich herabblicken, konnte es aber nicht, weil sie den Kopf nicht weit genug in Richtung Rumpf beugen konnte. Sie drehte ihn zur Seite. Alles, was sie sah, war die Flanke eines massigen Kuhkörpers.

Sie wich zurück. Jeder Schritt fühlte sich an als trüge sie einen schweren Rucksack, der ihre Gelenke überbeansprucht. Konnte eine Simulation so real sein? Sie sah nicht nur Bilder aus dem Kuhstall und nahm die Geräusche war, es roch auch wie im Kuhstall und, was sie am meisten beunruhigte, sie fühlte sich wie eine Kuh.

Zumindest nahm sie an, dass sich eine Kuh so fühlte. Sie fühlte sich auf jeden Fall nicht mehr wie sie selbst. Alles fühlte sich fremdartig an, komplett anders. Es fühlte sich an, als wäre sie zur Kuh geworden.

Nein, das konnte nicht sein. Das war doch nicht möglich! Oder doch?

Du bist eine Kuh, hatte der Mann gesagt. Nicht, du fühlst dich wie eine Kuh, oder erlebe, wie sich eine Kuh fühlt, sondern Du bist eine Kuh. War sie zur Kuh geworden? Wie hätte sie verwandelt werden können? Das wäre doch Zauberei. So ein Unsinn. Magie gab es nur in Märchen. In der echten Welt gab es keine Zauberei!

So sehr sie auch versuchte es wegzudiskutieren, Monika kam zu keinem anderen Schluss. Sie musste verwandelt worden sein. Vielleicht war die Assoziation des Mannes im Supermarkt mit einem Magier doch nicht so weit hergeholt.

Wie Wasser durch feuchten Sand sickerte die Erkenntnis in ihr Bewusstsein. Der Mann hatte sie in eine Kuh verwandelt. Sie war eine Kuh geworden. Ihr wurde nicht vorgespielt, wie sich eine Kuh fühlte, sie war zu einer leibhaftigen Kuh geworden.

Als wehte ein Wirbelsturm durch ihren Kopf flogen Monikas Gedanken hin und her. Von Kann das sein? über Wie komme ich hier wieder raus? bis hin zu Wie lebe ich als Kuh? Antworten auf diese Fragen für Monika unerreichbar wie der Horizont.

Als die Erkenntnis, dass sie womöglich für den Rest ihres Lebens eine Kuh bleiben würde, in ihr Bewusstsein sickerte, spürte sie Panik in sich aufsteigen. Ihre Atmung beschleunigte sich ebenso wie ihr Herzschlag. Sie spürte den Puls in ihrem Hals. Ihr wurde übel. Dabei handelte es sich nicht um eine leichte Übelkeit wie bei einer Busfahrt über eine Passstraße. Auch nicht um die Übelkeit, die ein heftiger Kater mit sich bringt. Die Übelkeit ging auch deutlich über die Übelkeit einer intensiven Norovirusinfektion hinaus. Monika hatte das Gefühl, dass, wenn sie erbrechen würde, all ihre Organe aus ihrem Körper schießen würden. Sie wusste nicht, ob dies die Panik war oder die Übelkeit, die man empfindet, wenn man vier Mägen hat.

Ich muss hier raus! Wie komme ich hier raus?

Egal in welche Richtung sich Monika bewegte, sie stieß nach wenigen Zentimetern an harte Metallstangen. Sie konnte nur ihren Kopf durch zwei bewegliche Stäbe stecken, die zusammen ein ‚V‘ ergaben. Dies erlaubte es ihr aber nur, an das gammlige Gras zu kommen, das vor ihr lag, mehr grau als grün war und roch wie drei Jahre alte Joggingschuhe. Ihr massiger Körper passte nicht ansatzweise durch die Öffnung.

Der letzte Weg

Eine laute Sirene ließ Monika zusammenzucken. Das rotierende Licht oranger Warnleuchten ließ Schattengeister durch den Stall tanzen. Ein metallisches Klacken war zu hören. Als Monika nach der Quelle suchte, erkannte sie, dass die Kühe sich nach hinten bewegten. Offenbar waren ihre Pferche geöffnet worden.

Sie würde zumindest aus dem Stall kommen. Ein Lichtstrahl, der durch die dunkle Wolkendecke fiel. Schnell ging auch sie zurück. Tatsächlich stieß sie dieses Mal nicht an Metallstangen. Stattdessen kam sie in einen schmalen Gang, der an der Wand hinter den Kuhständen vorbeiführte. Sie folgte den anderen Kühen, die sich wie die Autos im Feierabendverkehr voranschoben.

Ja, sie gingen auf die Tür zu. Sie würde Tageslicht sehen. Draußen war die Wahrscheinlichkeit größer eine Lösung für ihre Probleme zu finden.

Endlich kam auch Monika zur Tür. Sie bog um die Ecke, erwartete Sonnenstrahlen, blauen Himmel, saftiggrüne Wiesen, das bilderbuchidyll jeder Milchwerbung. Schneller als ein Blatt Papier im Lagerfeuer verschwand die heile Phantasiewelt aus ihrem Kopf, als sie um die Ecke blicken konnte.

Statt Sonne blaues Neonlicht, statt Himmel türkise Stahlwände, statt saftig grüner Wiesen eine LKW-Laderampe. Ein Tiertransporter.

Wo bringt der uns hin?

Monika blieb stehen, wollte zurück. Sie stieß an die Kuh hinter sich, die stoisch weiterlief, Monika voranschob. Ein großer Mann, den sie bislang nicht gesehen hatte, trat an sie heran, schlug ihr mit der Hand auf die Schulter. Sie hörte seine Stimme, konnte nichts verstehen. Es erinnerte sie an Affenschreie. Sie verstand die Worte des Mannes nicht, spürte nur die Bedrohlichkeit, die in ihnen lag.

Mit dem lege ich mich lieber nicht an.

Sie ging zwei Schritte weiter.

Wieso sollte ich mich nicht mit ihm anlegen? Ich bin eine Kuh. Ich bin zigmal so schwer wie der Mann. Was soll er mir schon tun?

Monika schob ihren Körper in Richtung des Mannes. Mit ihrem Gewicht könnte sie jeden zerquetschen. Vielleicht war nicht alles schlecht daran, eine Kuh zu sein.

Bevor sie ihren Triumph genießen konnte, spürte sie einen brennenden Schmerz, der sich in einer langen Linie über ihre Rippen zog. Wenige Millisekunden nach dem Schmerz folgte der laute Knall einer Peitsche. Das sollte er ihr tun. Wieder hörte sie die laute Stimme. Noch aggressiver.

Langsam ließ der Schmerz nach. Das Brennen wurde zu einer warnenden Wärme. Sie folgte den anderen Kühen in den LKW. Im LKW sollte ihr nichts passieren.

Aber wer weiß, wo der LKW sie hinbringt?

Das Ende eines kurzen Lebens in der Massenvernichtungsfabrik

Obwohl der LKW bereits voll schien, wurden immer weitere Kühe auf die Ladefläche gezwängt. Irgendwann standen die Kühe so eng, dass an Umfallen nicht mehr zu denken war. Auch eine Art der Ladungssicherung.

Außer den Körpern der Kühe neben sich und der Decke des LKW-Anhängers konnte Monika nichts erkennen. Sie spürte das Beschleunigen und Bremsen, die Kurven, das Wackeln von unebenem Untergrund. Sie hätte aber nicht sagen können, wie lange die Fahrt dauerte oder wohin sie fuhren.

Irgendwann spürte sie, dass der LKW rückwärts fuhr. Der charakteristische Warnton bestätigte sie. Wenig später hörte sie das mechanische Geräusch der Ladeklappe, die geöffnet wurde. Wie Wasser beim Öffnen der Schleusentore floss die Fleckviehmasse aus dem Laster. Links und rechts standen zwei Männer mit weißen Haarnetzen und weißen Plastikschürze, die dafür sorgten, dass keines der Tiere Reißaus nahm.

Irgendwann schritt auch Monika über die Laderampe. Als sie auf weißen Fliesenboden trat, rutschte sie leicht aus, konnte aber einen Sturz vermeiden. Auf vier Beinen zu laufen hat auch Vorteile.

Über ihnen hingen Leuchtstoffröhren in unverkleideten Leuchten. Einige flackerten immer wieder, was bei Monika das Bedrohliche Gefühl eines Gewitters auslöste, das einen glauben ließ, das eigene Leben ginge gleich zu Ende. Vielleicht trog sie dieses Gefühl nicht.

Sie wurde mit den anderen Tieren in einen schmalen Gang geführt, der gerade bereit genug für ein Tier war. Wenig später kam die Kuhkarawane gänzlich zum Stehen. Eingepfercht zwischen zwei Kühen und gekachelten Wänden hatte Monika wieder in etwa die Bewegungsfreiheit, die sie auch im Stall gehabt hatte. Allerdings ging es hier Kuh um Kuh vorwärts. Wie lange es dauerte, bis sie wieder eine Kuhlänge nach vorne kam, konnte sie nicht sagen.

Wie im Stall roch es nach Kuhdung und Urin. An die Stelle des zu vergammeln beginnenden Grases trat Eisengeruch.

Wieso war dieser hier so intensiv, wo sie doch zwischen Kacheln und nicht mehr zwischen Gitterstäben standen?

Eine gefühlte Ewigkeit ging es so weiter, doch die Kühe muhten schicksalsergeben wie Märtyrer vor sich hin, anstatt zu versuchen, Hades noch einmal zu entkommen.

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Die letzte Tür

Irgendwann verschwand die Kuh vor Monika hinter einer Tür, die sich vor Monika wieder schloss. Was wartete dahinter? Was würde mit ihr geschehen?

Ein metallenes Rolltor, Kachelwände, steriles Licht. Wie hatte sie das nicht früher bemerken können? Sie befand sich im Schlachthaus. Wieder ergriff sie Panik.

Weg hier! Raus! Sie musste fliehen! Nur wie? Sie wollte rückwärtslaufen, doch traf auf eine Kuh und erntete nur mürrische Gemuhe. Kein Ausweg. Nicht links, nicht rechts, nicht hinten.

Ratternd öffnete sich das Tor.

Nein, nicht da hinein. Nein! Wir müssen zurück wollte sie den anderen zurufen. Das Einzige, das ihrer Kehle entwich, war ein Muh. Allerdings schien sie nicht die Sprache der Kühe zu sprechen, obwohl sie nun selbst eine war. Zumindest konnte sie die anderen nicht zum Handeln veranlassen.

Stattdessen wurde sie von der Kuhmasse hinter sich weitergeschoben, weiter durch das offene Tor. Mit einem dröhnen schloss sich das Tor.

Monika drehte den Kopf und sah, dass es nach hinten keinen Ausweg mehr gab. Als sie den Kopf wieder nach vorne drehte, blickte sie auf weiße Gummistiefel, die unter einer weißen Plastikschürze hervorschauten. Sie blickte nach oben und sah in das Gesicht eines Mannes, der Mitte 20 sein mochte, dessen Blick aber bereits mehrere Leben hinter sich zu haben schien.

Der Mann setzte einen langen Stab der Aussah wie der Griff einer großen Taschenlampe, bei dem an Stelle der Glühbirne ein vorne abgeflachter Bolzen war, auf Monikas Stirn. Monikas Unterkiefer sank nach unten.

Sie wollte protestieren, wollte fliehen, wollte den Mann angreifen. Aber sie war starr als hätte sie Medusa ins Gesicht geblickt. Das Gesicht der Medusa war das Gesicht eines Mannes, der Teil einer industriellen Tötungsmaschine war. Der Teil, der noch nicht von Maschinen übernommen werden konnte (oder durfte), der aber schon vor langer Zeit jegliches Empfinden vom mechanischen Funktionieren seines Körpers abgekoppelt hatte, um nachts zumindest noch ein paar Stunden ohne Alpträume zu schlafen.

Mit einer winzigen Bewegung seines Daumens löste der Mann das Bolzenschussgerät aus. Monika spürte einen heftigen schlag auf den Kopf. Ihre Beine gaben nach. Ihr massiger Körper klatschte wie ein nasser Waschlappen auf den Boden.

Der Schmerz, der ihren Körper durchfuhr, fühlte sich an wie der, wenn man sich direkt den Nerv am Ellbogen stößt, nur dass er nicht nur ein Gelenk, sondern jedes einzelne durchfuhr.

Ein Ende wie Millionen andere

Als der Schmerz langsam abebbte, wollte Monika aufstehen, doch kein Muskel bewegte sich. Sie lag gelähmt da. Vermutlich hätte der Bolzenschuss sie auch bewusstlos machen sollen. Hätte.

Sie hörte das gedämpfte Muhen der Kühe, die noch vor der Tür warteten, ahnungslos, was sie dahinter erwartete, hörte das quatschende Geräusch von Gummistiefeln auf nassen Kacheln, hörte das Rascheln von Ketten, roch den Duft des gewaltsamen Todes, eine Mischung aus Angstschweiß, Exkrementen und Blut. Mindestens zwei davon stammten von ihr selbst.

Schlachtung einer Kuh aus Massentierhaltung
Quelle: ARIWA

Ein Mann ging an ihr vorbei, beugte sich hinab, wickelte eine Eisenkette um ihr rechtes Hinterbein. Ein mechanisches Rattern ertönte, die Kette spannte sich. Mit einem Ruck wurde Monikas schlaffer Körper gedreht und ein kurzes Stück über den Boden geschleift, bevor er angehoben wurde. Monika spürte, wie sie Stück für Stück den Kontakt zum Boden verlor. Erst nur die Hinterbeine, die Hüfte, der Brustkorb, die Schulter. Schließlich auch der Kopf.

Nun hing sie vollends in der Luft, ein Bein von der Kette gehalten, die anderen schlaff nach unten wie die Äste eines Christbaums zwei Wochen nach Weihnachten. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie ein ähnliches Schicksal ereilen würde.

Sie spürte eine Hand, die ihr linkes Vorderbein packte, sie ein wenig zur Seite drehte. Sie sah ein Messer mit einem weißen Plastikgriff, die Klinge so oft geschliffen, dass sie eher aussah wie ein Spieß als ein Messer.

Wie viele Kehlen mochten damit schon durchtrennt worden sein?

Diese abgewetzte Klinge war es also, das letzte Rädchen in der Vernichtungsmaschine an deren Beginn Milliarden winzige Wesen stehen, die so voll Hoffnung das Licht erblicken, das niemals das der Sonne sein wird, die vom ersten bis zum letzten Atemzug gefilterte Luft atmen, deren kleine Füßchen, die zum Scharren, Laufen, Springen gemacht sind, nie mehr als ein paar Schritte am Stück laufen werden, deren größte Freude es sein würde, wieder eine Ration von dem viel zu hochkalorischen Futter zu bekommen, das mit ihrer natürlichen Ernährung so viel zu tun hatte, wie Erdbeerjoghurt mit den süßen, roten Feldfrüchten, die wir so gerne jeden Sommer pflücken, die mehr Medikamente erhielten als eine Apotheke in einer Kleinstadt, bis eben jenes letzte Rädchen dem, was als Leben zu bezeichnen an Zynismus grenzte, ein Ende setzte.

Dies war Monikas letzter bewusster Gedanke. Der nächste war brennender Schmerz an der Kehle.

Sekunden später hörte sie ein Röcheln. Laut. Nass. Das Röcheln kam aus ihrem Hals, in dem nun ein breiter Schnitt klaffte.

Luft, sie brauchte Luft. Es fühlte sich an, wie wenn ihr beim Tauche die Luft ausging und sie auftauchen musste. Sie konnte aber nicht auftauchen. Stattdessen wurde sie immer weiter in die Tiefe gezogen. Der Druck auf der Lunge wurde größer, die Luft in ihrem Körper weniger. Sie hatte das Gefühl, gleich würde ihr Körper zerreißen. Der Druck stieg weiter. Luft, Luft, Luft! Sie brauchte Luft. Stattdessen kam Finsternis.

„Mama, steh auf! Wir wollen doch zum Love Earth Festival!“

Monika schreckte hoch, Sophie stand vor ihr, grinste sie an. Monika blickte sich um. Sie war in ihrem Schlafzimmer. Nachthemd und Bett schweißnass. Sie atmete tief ein. Nie hatte es sich so gut angefühlt, die kühle Luft in der Lunge zu spüren.

„Ja, gleich“, sagte sie und nickte ihrer Tochter zu.

Florian streckte seinen Kopf zur Tür herein. „Ma, was gibt es heute Abend zu essen?“

„Gemüse“, antwortete Monika keuchend. „Gemüse!“

Plastik – (Un-)Heilsbringer für die Welt

„Ich packe Ihnen das Obst in die Plastiktüte, weil die Weintrauben noch ein bisschen nass sind“, sagte der Obsthändler und steckte die Äpfel, Pflaumen, Orangen, Bananen und Weintrauben in eine weiße Tüte aus so dünnem Plastik, dass man gar nicht merkte, dass man etwas zwischen den Fingern hatte, wenn man nur eine Lage anfasste. In roter Schrift prangte das Obst und Gemüse Algül-Logo darauf, bei dem die beiden ‚l‘ und das ‚gü‘ so gestaltet waren, dass sie wie die Hagia Sophia aussahen. Ob etwas derartiges in der Türkei als Blasphemie ausgelegt und Herr Algül dafür von Religionsfanatikern angegangen worden wäre? Monika wusste es nicht und die Türkei war weit weg.

Nicht mehr weit weg war der Strand, an dem Monika und ihre Familie in weniger als 24 Stunden die winzigen Körnchen an der dünnen Haut zwischen ihren Zehen würden kitzeln spüren.

„Stimmt, Plastik hält einfach! Eine der besten Erfindungen aller Zeiten“, sagte Monika lachend. Hätte sie geahnt, was sie am nächsten Abend am Strand entdecken würden, hätte sie diesen Satz sicher nicht gesagt.

„Ja, das stimmt. Dann einen schönen Urlaub!“, sagte Herr Algül und winkte mit der Hand zum Abschied.

„Danke“, sagte Monika und verließ den Laden.

Armee der Plastiktuben

Bevor sie nach Hause fuhr, besorgte sie noch Sonnencreme, eine Tube Fleckentferner und Kosmetikartikel in Reisegröße, die sie ins Handgepäck packen würde, falls der Koffer nicht mit ihnen am Urlaubsort ankommen sollte. Nach all den Berichten über verspätete oder verlorene Koffer hatte man das Gefühl, eher im Lotto zu gewinnen, als mit allen Koffern am Urlaubsort anzukommen.

Wie eine Armee kleiner bunter Plastiksoldaten standen die kleinen Tuben und Fläschchen aufgereiht auf der Kommode, bevor Monika sie in einen Gefrierbeutel mit Zipverschluss packte, um bei der Sicherheitskontrolle keine Probleme zu bekommen.

Plastik Taschen

„Kannst du mir bitte noch drei alte Einkaufstüten bringen?“, rief Monika zu Holger in die Küche.

„Wo sind die?“

„In dem Fach über dem Kühlschrank“

„Wieso haben wir mehr Einkaufstüten als ein Discounter?“, fragte Holger, als er wenige Augenblicke später zu Monika ins Schlafzimmer kam.

„Ach, man kann nie genug Plastiktüten haben“, sagte sie. Hätte Monika gesagt, dass sie am nächsten Tag einen Marathon gegen Chewbacca und Kermit der Frosch laufen würde, Holger hätte nicht ungläubiger gekuckt, blieb aber stumm wie ein Kartäuserbruder.

Nur die harten kommen in den Plastikgarten

„Was hast du denn gemacht?“, fragte Monika, als sie Florian sah, der mit zwei aufgeschürften Knien nach Hause kam.

„Ach, wir haben heute auf den Kunstrasenplatz trainiert. Wenn du da rutschst, schürfst du dir sofort alles auf. Das Plastikgranulat wirkt wie Schleifpapier.“

„Brauchst du Pflaster?“

„Ja, wäre gut. Sonst bleibt wieder die Hose dauernd kleben.“

Monika lief schnell ins Badezimmer, holte die Tüte mit den Pflastern. Florian hatte sich unterdessen auf die Couch gesetzt. Monika setzte sich neben ihn, nahm ein Pflaster aus der Verpackung, zog die beiden Plastikstreifen von der Rückseite ab und klebte das Pflaster auf Florians Knie. Da der eine Pflasterstreifen die Wunde nicht ganz bedeckte, klebte Monika überkreuz einen zweiten darüber. Das Gleiche machte sie auf der anderen Seite. Mit den beiden Pflasterkreuzen auf seinen langen dürren Teenagerbeinen sah Florian aus wie eine Comicfigur. Um ihn nicht zu ärgern, verkniff sich Monika einen lustig gemeinten Spruch.

„Kannst du so überhaupt an den Strand?“

„Auf jeden Fall! Nichts kann mich vom Strand fernhalten.“

„Aber das Salzwasser wird in den Wunden brennen.“

„Ach, das halt ich schon aus.“

„Im schlimmsten Fall bekommst du Plastikstrümpfe, die bis zu deinen Oberschenkeln gehen“, sagte Monika mit einem spöttischen Zwinkern.

„Klar, damit ich wie eine Transe mit Plastikstrapsen aussehe.“

Monika boxte Florian leicht gegen den Oberarm. „Ach, sag nicht so Zeug.“

„Du hast doch angefangen“, sagte Florian lachend.

Plastik am laufenden Band

„Mama, sollen wir unsere Koffer auch so einwickeln lassen?“, fragte Sophie und zeigte auf die Foliermaschiene neben der Gepäckabgabe, mit der gerade die Koffer einer Familie eingewickelt wurden, bis sie aussahen wie zu eckig geratene Dönerspieße.

„Das brauchen wir nicht, wir haben ja ganz normale Koffer.“

„Aber die doch auch.“

„Vielleicht haben sie Angst, dass die Koffer aufgehen, weil sie so viel Gepäck haben.“

„Dann brauchen wir das auf dem Heimflug, wenn ihr beide wieder so viele superschöne Souvenirs von fliegenden Händlern kauft“, sagte Holger und drückte Monika einen Schmatz auf die Wange.

„Das sind keine Souvenirs, das sind Accessoires. Sonnenbrillen, Armreifen, Haarklammern, Ohrringe. Es muss doch immer alles zum Outfit passen. Das verstehst du nicht, weil du ein Mann bist. Auch wenn wir das natürlich nur für euch Männer machen“, sagte sie und klimperte mit den Augen als wäre sie ein Mascara-Modell beim Shooting.

„Yap, ich versteh auch nicht, wieso man diesen ganzen Krempel braucht“, pflichtete Florian bei. „Und für mich muss eine Frau sowas nicht machen.“

„Naja, wart noch ein, zwei Jahre“, sagte Monika grinsend.

„Was heißt hier warte noch?“, fragte Florian mindestens mit der gleichen Entrüstung, mit der ein erzkatholischer Priester auf Geschichten über Homosexualität reagiert.

„Lasst uns gleich durch die Sicherheitskontrolle geben, dann können wir uns noch gemütlich einen Kaffee kaufen, wenn wir am Gate warten“, sagte Holger, womit er Monika geschickt aus dem Minenfeld der aufkeimenden Männlichkeit ihres Sohnes manövrierte.

„Oh ja, Kaffee brauche ich!“, stimmte Monika zu.

Plastikgadget vs. Flugsicherheit

„Ist das ihr Koffer?“, fragte der Mitarbeiter hinter der Gepäckdurchleuchtung.

„Ja“, sagte Monika unsicher. Hatte sie doch etwas Verbotenes dabei?

„Kommen Sie bitte kurz mit mir zur Seite, ich muss Ihren Koffer öffnen“, sagte der Mann, wobei die Schwingung in seiner Stimme einem straff gespannten Seil entsprach.

Als Monika vor ihm stand, streifte sich der Mann zwei lila Einmalhandschuhe über, öffnete mit einer routinierten Handbewegung den Reisverschluss und klappte den Koffer auf. Monika fühlte sich wie beim Warten auf das Ergebnis der Alkoholkontrolle, wenn man mit dem Auto angehalten wurde. Obwohl man wusste, dass man nicht zu viel getrunken hatte, war man sich nie ganz sicher, ob das Gerät das auch wusste.

Gezielt suchte er in der rechten oberen Ecke und zog nach wenigen Sekunden einen länglichen blauen Plastikstab mit abgerundeten Ecken heraus.

„Was ist das?“, fragte er. Monika spürte eine Erleichterung, als hatte man ihr den großen Koffer, den sie aufgegeben hatten, endlich von den Schultern genommen. Sie lächelte verlegen, streckte vorsichtig die Hand aus und sagte:

„Das ist ein Reiseventilator. Darf ich es Ihnen zeigen?“ Der Mann zog die Augenbrauen zusammen, reichte ihr den Plastikstab und sagte:

„Bitte.“

Monika nahm den Stab, drückte einen kleinen Knopf, woraufhin der Plastikstab auseinanderklappte und sich an der oberen Seite drei Rotorblätter entfalteten. Sie drückte einen weiteren Knopf und der Rotor begann sich zu drehen. Ihre Haltung entsprach nun der der Verkäuferin bei einer Tupperparty, die gerade voll Inbrunst und Leidenschaft eine Must-Have-Errungenschaft wie die Bananendose in Bananenform oder den Eiertrenner vorstellt und sich wundert, warum ihr Publikum die Begeisterung nicht teilt.

Demonstrativ richtete sie den Ventilator auf sich. Als sie ihn auf den Sicherheitsmitarbeiter richten wollte, hob dieser ungerührt wie eine britische Palastwache die Hand und sagte:

„Schon gut. Sie können gehen.“

„Danke“, sagte Monika ein wenig enttäuscht, dass der Kontrolleur nicht faszinierter auf ihr total praktisches Gadget reagierte, packte alles wieder in den Handgepäckkoffer und ging zu ihrer Familie, die das Schauspiel aus sicherer Entfernung beobachtet hatte.

„Ich hab Hunger“, sagte Sophie so quengelig, dass sie in einer Schokoriegelwerbung als abgehalfterte Diva dargestellt worden wäre.

Nahrung nah am Plastik

„Möchtest du ein Sandwich mit Schinken, Truthahn oder Mozzarella?“, fragte Holger Sophie als sie vor dem italienischen Imbissstand warteten.

„Mozzarella natürlich!“, sagte Sophie so entrüstet als hätte Holger gefragt, ob sie statt des Mozzarellas Erbrochenes oder Babyschenkel essen wollte. Seit sie eine Doku über Schlachthäuser in der Schule gesehen hatte, reagierte sie immer so.

„Zwei Kaffee, zwei Apfelschorlen, zwei Mozzarellasandwiches, ein Salamisandwich und eins mit Truthahn, bitte“, sagte Holger zum Kassierer.

„Alles?“, nuschelte dieser. Holger nickte und sagte:

„Mit Karte, bitte.“

„Sie dürfen“, sagte der Kassierer und zeigte mit der Hand auf das Kartenlesegerät. Holger legte die Plastikkarte auf und wartete auf den Signalton.

Unterdessen richtete der Kassierer die Bestellung auf ein Plastiktablett, das mit seinen abgeschlagenen Ecken und Schleifspuren, aus denen Plastikfransen hochstanden, den ohnehin nicht zum Speichellaufen aussehenden Sandwiches das letzte Bisschen Appetitlichkeit. Holger trug das Essen zum Tisch, den Monika und Florian bereits besetzt hatten und gab jedem seine Bestellung.

Mit einem lauten Zischen drehte Florian die PET-Flasche auf und trank sie in einem Zug fast zur Hälfte aus, wodurch diese ein knistern wie ein schmelzender Gletscher von sich erzeugte.

„Nicht so hastig“, sagte Holger.

„Sorry, aber ich war am Verdursten“, antwortete Florian und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

Meer aus Plastikflaschen

Sophie riss die Verpackungsfolie auf, nahm ihr Mozzarellasandwich heraus und biss erwartungsvoll hinein wie der Eberhofer Franz in eine Leberkässemmel (Sophie hätte natürlich nicht in eine Leberkässemmel gebissen, höchstens in eine vegane).

„Tomaten und Mozzarella schmecken wie die Verpackung“, sagte sie und verzog das Gesicht.

„Woher weißt du, wie die Verpackung schmeckt?“, fragte Monika.

„Na, nach Plastik halt“, sagte Sophie. „Probier mal.“ Monika biss in ihr Mozzarellasandwich.

„Ich find’s gar nicht so schlecht“, sagte sie. Gut, das Sandwich war jetzt nicht das beste Essen, das sie je hatte, aber was sollte man von einem Flughafenimbiss erwarten. Süß, salzig, satt – das reichte Monika.

„Na, dann lass dir deinen Plastikkäse schmecken!“, sagte Sophie und schob ihr halb gegessenes Sandwich von sich weg.


Smarticular (Hg.): Plastiksparbuch

Plastikmüll, der sich zu Millionen Tonnen in der Umwelt anreichert, gehört zu den größten Herausforderungen unserer Zeit. Dabei ist gesundheitsschädliches oder kurzlebiges Plastik fast immer leicht vermeidbar! Alle wichtigen Fakten rund um Plastik und die Probleme, die es verursacht, haben wir im Plastiksparbuch zusammengestellt, zusammen mit über 300 Anleitungen und Ideen für sinnvolles Plastiksparen im Alltag.


Nützliches in Plastikfolie

Beim Boarding verteilte die Stewardess mit einem professionellen Barbiepuppenlächeln kleine mit dem Logo der Fluggesellschaft bedruckte Karamellbonbons. Holger wickelte noch auf dem Weg zu ihrer Sitzreihe die Plastikfolie vom Bonbon, steckte es in den Mund und schloss genießerisch die Augen.

„Du weißt schon, dass die für den Start sind?“, sagte Monika.

„Wieso für den Start?“, fragte Holger, wobei er nur nuschelnd sprechen konnte mit dem großen Bonbon im Mund.

„Das Lutschen hilft den Druck in deinen Ohren auszugleichen, wenn das Flugzeug in die Höhe steigt.“

„Okay, dann lutsche ich ganz langsam“, sagte Holger grinsend.

„Wow, kuckt mal, es gibt sogar Kuscheldecken“, rief Sophie und wedelte mit ihrer noch eingepackten Decke vor den Augen der anderen herum. „Darf ich die nachher mitnehmen?“

„Nein, die werden mehrfach verwendet. Nach der Reinigung werden sie wieder in Plastikfolie verpackt, damit du weißt, dass sie sauber ist.“

„Okay, aber zumindest hier habe ich’s dann kuschelig“, grinste Sophie, während sie die ausgepackte Wolldecke um sich wickelte als würde sie sich wie eine Raupe verpuppen. Die Plastikfolie stopfte sie wieder in das Fach an der Rückenlehne des Vordersitzes.

Plastikmeer an Land

„Schau mal Mama, wie klein die Häuser schon sind“, sagte Sophie kurze Zeit nach dem Start.

„Ja, sieht aus wie bei einer Modelleisenbahn“, sagte Monika.

„Nur dass Menschen nicht aus Plastik sind.“

„Manche zum Teil schon“, sagte Holger grinsend.

„Möchten Sie Wasser?“, fragte die Stewardess und reichte Monika und Sophie jeweils eine kleine Wasserflasche.

„Gerne, danke“, sagte Monika und nahm die Flaschen.

„Nur 200 Milliliter. Ich hoffe, es gibt noch Nachschub“, sagte Florian.

„Falls nötig kaufen wir etwas. Es gibt ja auch den Boardverkauf“, sagte Holger.

„Dann will ich aber lieber eine Cola“, sagte Florian.

„Und ich Apfelsaft“, rief Sophie.

Meer aus Plastik

Quelle: scinexx.de das wissensmagazin: Umwelt. Eine Landschaft aus Plastik

Um aufkeimenden Unmut zu vermeiden, winkte Holger die Stewardess herbei und fragte, ob sie die gewünschten Getränke bereits jetzt bekommen könnten. Wenige Augenblicke später brachte die Stewardess kleine Plastikbecher. Skeptisch betrachtete Florian den Becher, der so dünn war, dass es einem Kunststück glich, ich weder zu zerdrücken noch fallen zu lassen.

„Ist das Kindercola?“, fragte er.

„Wieso Kindercola?“, fragte Monika.

„Na, weil die so klein ist.“

„Der Preis ist eher Luxuscola“, sagte Holger, als er sein Plastikgeld und den Zahlungsbeleg in seine Hemdtasche steckte.

Alles frisch dank Plastik

„Möchten sie Rindergulasch mit Nudeln oder eine Gemüsepfanne?“, fragte die Stewardess, die das Essen verteilte. Monika und Sophie bestellten die Gemüsepfanne, Holger und Florian das Gulasch. Jeder erhielt ein steingraues Plastiktablett mit einer kleinen Aluschale in der Mitte. Daneben befanden sich eine kleine Plastikschüssel mit Salat, die nochmals in Folie gepackt war, damit nichts herausfiel sowie ein kleiner Kuchen, der auf dieselbe Art verpackt war. Das ganze erinnerte an Astronautenessen aus Siebzigerjahre Sience Fiction Filmen.

Florian öffnete die Folie, in der sich Serviette und Besteck befanden, zog das Plastikmesser heraus, betrachtete es, fuhr mit dem Daumen über die Schneide und sagte:

„Ich hoffe, das Fleisch ist klein. Was soll ich damit schneiden?“, fragte er.

„Soll ich dir helfen, mein Kleiner?“, fragte Monika mit einer Stimme wie Omas, die nur mit ‚Dutzi Dutzi‘, ‚A A‘ und ‚Wau Wau‘ zu Babys sprechen.

„Nein, danke. Ich komm schon zurecht“, antwortete er und schob sich das erste Stück Fleisch in den Mund. „Schmeckt.“

„Ja, kann man essen“, bestätigte Holger. „Wie ist euer Gemüse?“

„Naja, al dente ist es nicht mehr, aber geschmacklich okay“, antwortete Monika. „Der Salat ist nicht schlecht.“

„Dann kannst du meinen auch haben“, sagte Florian und reichte ihr die Plastikschüssel und das kleine Tütchen mit dem Dressing.

„Der würde dir auch nicht schaden“, sagte Monika, als sie den Salat nahm.

„Ich muss doch auf meine Sportlerfigur achten“, sagte Florian grinsend und rieb mit der Hand über seinen Bauch.

„Und ich nicht, oder was?“, fragte Monika mit der gleichen Geste, wobei sie deutlich mehr zu reiben hatte.

„Hast du eine Sportlerfigur?“, fragte Florian lachend.

„Sei nicht so frech, junger Mann“, sagte sie gespielt streng und drohte mit dem Zeigefinger.

„Dann klink ich mich jetzt mal lieber aus, bevor ich noch ernsthaft Ärger bekomme“, sagte Florian, riss das Plastiktütchen mit den Kopfhörern auf, stöpselte diese ein und suchte über die Bedienknöpfe in der Plastikverkleidung des Sitzes vor sich einen Film.

„Feigling“, sagte Monika und schnaubte wie Clint Eastwood, wenn dessen aus Angst das Weite gesucht hatte.

Obst unter dem Plastikgletscher

„Mama, da unten liegt Schnee!“, rief Sophie und klopfte Monika aufgeregt auf den Arm als würde sie eine Bongotrommel spielen.

„Ach, Sophie. Schnee? Wir haben doch Sommer und wir sind gerade nicht über den Bergen“, antwortete Monika.

„Aber schau doch, da ist alles weiß!“

Monika beugte sich über ihre Tochter, um besser aus dem Fenster blicken zu können. Tatsächlich war unter ihnen alles weiß. Monika stutze, selbst überrascht von dem Anblick.

„Das sind Folien“, sagte sie dann. „Weiße Folien.“

„Und warum ist das ganze Land mit Plastik bedeckt?“

„Das sind Gewächshäuser“, sagte Monika. „Aber du hast Recht, man könnte meinen, es ist Schnee. Und es ist Wahnsinn, wie viele da stehen.“

„Naja, von hier wird ein guter Teil Europas mit Tomaten und Gurken versorgt“, sagte Holger.


Charlotte Schüler: Einfach plastikfrei leben

Ob zu Hause, im Büro oder auf Reisen: Wir benutzen ständig Plastik und produzieren viel zu viel Müll. Charlotte Schüler hatte vor einigen Jahren genug von diesem unachtsamen Umgang mit unserem Planeten und lebt seitdem (nahezu) plastikfrei. Ihren nachhaltigen Alltag dokumentiert die junge Münchnerin mit großem Erfolg auf ihrem Blog und in den sozialen Medien.


„Und wozu die Gewächshäuser? Hier ist es doch warm“, sagte Monika.

„Warm ja, aber auch trocken. Unter dem Plastik kann man leichter ein fast tropisches Klima erzeugen, indem das Gemüse gut wächst.“

„Das erklärt, warum das Gemüse oft nach Plastik schmeckt“, sagte Monika lachend.

„Ich weiß nicht, ob es da einen direkten Zusammenhang gibt.“

Sophie beugte sich vor, blickte ihren Vater fragend an und sagte: „Papa, das war ein Witz!“ Dabei fasste sie sich mit der Hand an die Stirn.

„Danke, meine Tochter“, sagte Monika und lächelte zufrieden in sich hinein wie ein Kind, das noch ein Bonbon in einer schon leer geglaubten Süßigkeitentüte gefunden hat.

Plastikkreislauf mal anders

„Ah, jetzt ist Urlaub!“, sagte Monika und saugte ein erstes Mal genüsslich an dem schwarzen Plastikstohhalm in ihrem Aperol Spritz, den sie sich zum Abendessen bestellt hatte, während die Kinder sich noch ihre Cola aus den Plastikflaschen in die bis oben hin mit Eiswürfeln gefüllten Gläser kippten.

„Wollen wir nicht gemeinsam trinken?“, fragte Holger und hob sein Bierglas als Aufforderung zum Anstoßen.

„Entschuldigt, auf einen schönen Urlaub!“, sagte Monika.

„Auf einen schönen Urlaub“, sagte Holger. Alle stießen an und tranken als hätten sie erlesensten Champagner in ihren Gläsern.

„Wusstet ihr, dass es hier drei Kirchen gibt, die alle im Mittelalter erbaut wurden? Eine davon sogar vor über tausend Jahren. Die müssen wir besuchen“, sagte Holger.

„Ne, Dad. Strandurlaub war das Motto!“, sagte Florian.

„Ja, schon, aber ihr wollt doch nicht eine ganze Woche nur am Strand liegen, oder?“

„Doch, genau das. Einfach chillen!“, sagte Florian.

„Aber nur Strand ist doch langweilig!“

„Stimmt, deswegen gehen wir auch ins Meer!“, warf Sophie ein.

Da Monika wusste, dass die Diskussion sich wie ein Kinderkarussell auf dem Rummel mit der immergleichen Melodie ständig weiter um sich selbst drehen würde, klinkte sie sich geistig aus der Unterhaltung aus und genoss den Blick auf die untergehende Sonne, deren Farbe sich zunehmend dem kräftigen Orange ihres Getränks anpasste. Dabei kam sie nicht umhin, die Unterhaltung des Paares am Nebentisch mitzuhören.

Der Mann mochte knapp über sechzig sein, trug blaue Segelschuhe ohne Socken und eine beige Chinohose, die seine leicht gebräunten Beine zeigte, auf denen erste Altersflecken und Besenreiser zu erkennen waren. Das farblich zu den Schuhen passende Sakko hatte er zum Essen über die Stuhllehne gehängt, die Ärmel seines weißen Hemdes waren aber mit Manschettenknöpfen zugeknöpft, in die die Buchstaben ‚T‘, ‚G‘ und ‚J‘ eingraviert waren.

Seine Frau sah ein paar Jahre jünger aus. Ob sie es tatsächlich war oder ob dies das Ergebnis eines guten Chirurgen war, ließ sich nicht eindeutig entscheiden. Dass Körper nicht mehr dem entsprach, was Mutter Natur ihr mitgegeben hatte, sehr wohl. Sie trug weiße Ledersandalen mit goldenen Verzierungen, ein knielanges weißes Kleid, dazu eine Perlenkette und passende Ohrringe. Zusammen wirkten sie wie die Unternehmergattin aus Sturm der Liebe, die sich zum Traumschiffkapitän verlaufen hatte.

Zunächst hatte Monika die Unterhaltung der beiden eher als zusätzliches Hintergrundrauschen neben dem sanft hin und her wogenden Meer wahrgenommen, bis sie hörte, wie die Frau sagte:

„Du willst doch nicht den Seeteufel essen, oder?“

„Eigentlich hatte ich schon daran gedacht“, antwortete er.

Wieso sollte der Mann keinen Seeteufel essen? Fisch war doch gesund. Bevor Monika sich weiter darüber Gedanken machen konnte, ließ die Frau sie indirekt an ihrem Wissen teilhaben.

„Seeteufel ist doch einer der Fische mit der höchsten Quecksilberbelastung. Und wer weiß, welche Schwermetalle und sonstige Schadstoffe sonst noch enthalten sind.“

„Aber die werden doch kontrolliert“, sagte der Mann mit einer Stimme wie der Bundespräsident bei der Neujahrsansprache.

„Ja, bei uns zu Hause vielleicht, aber hier?“, sagte die Frau und machte eine unbestimmte Kreisbewegung mit ihrer Hand, wobei sie einen Gesichtsausdruck machte, als würde ein Obdachloser, bei dem man schon über mehrere Meter riechen konnte, dass er schon länger keine Waschgelegenheit mehr gehabt hatte, versuchen sie zu umarmen.

„Gut“, sagte der Mann. „Dann nehme ich die Jakobsmuscheln. Da habe ich neulich gelesen soll die Belastung gering sein.“

Fisch Müll Plastik

Die Frau schüttelte tadelnd den Kopf, wie eine Lehrerin, deren Ungeduld beim Abfragen eines Schülers exponentiell zunimmt, so wie das Ergebnis der Gleichung, die er zu lösen hätte.

„Aber Muscheln enthalten doch riesige Mengen Mikroplastik.“, sagte sie. „Bei Fischen bleibt das Mikroplastik hauptsächlich im Verdauungstrakt. Bei den Muscheln isst du es zwangsläufig mit.“

„Gut, dann vielleicht doch Rindfleisch“, sagte der Mann mit der Schicksalsergebenheit eines geschlagenen Samurai.

„Du sollst doch auf dein Cholesterin achten, Schatz.“

Bevor Monika die von der Frau als zulässig eingestuften Lebensmittel in Erfahrung bringen konnte, spürte sie ein Klopfen auf ihrem linken Unterarm. Sie blickte zu Sophie, die auf den Kellner zeigte, der mit Notizblock, Stift und einem professionellen Lächeln neben ihr stand und auf ihre Bestellung wartete. Wie ein Kampfpilot das Zielgebiet sondierte Monika die Karte. Fisch? Nein! Meeresfrüchte? Nein! Steak? Nein!

„Die Tagliatelle mit saisonalem Gemüse, bitte“, sagte sie mit dem Lächeln eines Kindes, das endlich den Schließmechanismus einer Geheimschatulle geknackt hatte.

„Sehr wohl“, sagte der Kellner, nickte und ging in Richtung Küche.

„Was, kein Fisch?“, fragte Holger.

Monika schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe heute eher Lust auf vegetarisch.“

„Das ist toll, Mami“, sagte Sophie grinsend und umarmte ihre Mutter.

Obwohl sie den zartsalzigen Umamigeschmack von Fisch, der das Meer vor ihr auch noch auf ihren Gaumen gebracht hätte, doch ein wenig vermisste, genoss sie ihre Pasta. So schmeckte sie zwar nicht das Meer, aber die Sonne des Südens dafür um so intensiver in den Zucchini, Paprika, Auberginen und Artischocken, die sich mit der leichten Tomatensoße herrlich an die Nudeln schmiegten. Und das ganz ohne Bedenken wegen Quecksilber, Mikroplastik oder dergleichen. An das Plastikland der Gewächshäuser dachte sie in diesem Moment nicht mehr.

Die Plastikpyramide

„Die machen gerade erst auf“, sagte Florian, als sie am nächsten Morgen um 08:00 Uhr zum Frühstück kamen. „Und ihr Folterknechte reißt mich mitten in der Nach aus dem Bett!“

„Sieben Uhr ist doch nicht mitten in der Nacht“, entgegnete Holger. „Außerdem ist doch schon offen.“

„Ja, aber alles ist noch unter Plastikfolie.“

„Schau, da kommen die Kellner und decken alles ab. Jetzt beruhigt?“, fragte Monika. Schweigend schlurfte Florian in Richtung Buffet.

„Du weißt schon, dass wir nicht in Ägypten sind, oder?“, fragte Holger, als Florian mit seinem Teller zum Tisch kam. Dieser sah ihn an, wie er seinen Mathelehrer ansah, als sie Vektorengleichungen durchnahmen.

„Weil du so eine große Pyramide auf deinem Teller hast“, fügte Holger hinzu und zeigte auf das dreistöckige Gebilde auf Florians Teller.

„Naja, das sind zwei Marmeladen, zwei Nutella, zwei Honig und drei Butter. Für zwei Semmeln halt.“

„Und die gibt’s nur so?“

„Ja, alles einzeln verpackt. Dahinten“, sagte Florian und zeigte in die Ecke des Buffets, in der sechs durchsichtige Plastikschüsseln aufgestellt waren, die alle mit unterschiedlichen kleinen Plastikschälchen gefüllt waren.

„Mmhh, den Kuchen müsst ihr probieren“, unterbrach Monika die Unterhaltung der beiden. „Der schmeckt wirklich klasse!“

„Welcher ist das?“, fragte Holger.

„Der Zitronenkuchen. Hier“, sagte Monika und reichte Holger die Plastikverpackung, in die der Kuchen verpackt war.

„So einen möchte ich auch“, sagte Sophie, die gerade die Reste ihres Erdbeerjoghurts aus dem Becher kratzte. Wenig später kam sie mit einem Kuchenstück und zwei einzeln verpackten Schokocookis zurück. Holger hob gerade die Hand als wollte er protestieren, war durch das Zahnarztbiberlächeln seiner Tochter aber offenbar so entwaffnet, dass er nur seufzte und ihr mit der Hand über den Kopf strich.

„Ein größerer Tischabfall würde nicht schaden“, sagte er, als er verzweifelt versuchte, die Verpackung seines Kuchenstücks so in das Halblitergefäß mit Schwingdeckel zu stecken, dass nicht einer der Marmeladenbehälter auf der anderen Seite herauspurzelte.

Bevor sich Holger weiter als Stapelkünstler versuchen konnte, kam der Kellner und tauschte den Tischabfalleimer gegen einen frischen aus. Der Gedanke, dass es besser wäre, das Frühstück so zu servieren, dass der Tischabfall nicht überfrachtet wird, schien weder beim Personal noch bei der Hotelführung jemals aufgetaucht zu sein. Diesbezüglich schwammen sie mit Monika und ihrer Familie auf einer Welle.


Christoph Schulz: Plastikfrei für Einsteiger

In Folie verpacktes Gemüse, Duschgelpackungen und Plastikpfannenwender – überall begegnet uns Plastik im Alltag, meist völlig unnötig. Unserer Erde zuliebe darauf zu verzichten, erscheint aber oft als sehr aufwendig und kompliziert. Doch der engagierte Umweltaktivist Christoph Schulz beweist, dass ein plastikfreies Leben viel leichter ist, als viele glauben. 


Glasoptik und Plastikklang

„Mama, krieg ich ein Eis?“, rief Sophie, die wie ein nasser Hund tropfend vom Pool auf Monika, die die Ruhe der Sonnenliege genoss, zu rannte.

„Ich möchte auch eins!“, rief Florian, der knapp hinter seiner Schwester angelaufen kam.

„Gut, aber nur, wenn ihr mir einen Virgin Colada mitbringt“, sagte Monika.

„Und mir ein Bier!“, warf Holger noch ein.

Wenige Minuten später kamen die Kinder wieder, jeder einen Plastikbecher mit vier Kugeln Eis, Sahne, Schokosoße und Waffeln in der einen und jeweils ein Getränk für die Eltern in der anderen Hand.

„Ich glaube beim nächsten Mal müssen wir vorher festlegen, wie groß ein Eis ist“, sagte Holger.

„Ach Schatz, wir haben Urlaub. Genieß dein Bier“, sagte Monika und zog an ihrem Virgin Colada, der sie sofort auf eine einsame Südseeinsel beförderte, mit braungebrannten Männern, deren Sixpack nichts mit Bier zu tun hatte.

Holger betrachtete den Bierkrug, an dessen Seiten sich feine Wasserperlen gebildet hatten, die im Sonnenlicht funkelten und von denen Einzelnen langsam nach unten liefen und eine Spur der Kühle und Frische hinterließen. Er klopfte mit seinem Ehering dagegen.

„Erstaunlich“, sagte er. „Sieht echt aus wie Glas, ist aber Plastik.“

„Stimmt, meins auch“, sagte Monika. „Wahrscheinlich, damit es hier keine Scherben gibt, am Pool.“

„Mmmhhh“, brummte Holger und nahm einen weiteren Schluck seines Bieres. „Trotz Plastik kann man einen wunderbaren Urlaub haben.“

Konnte man das?

Plastiküberraschung beim Abendspaziergang

„Wisst ihr, was ich mir wünsche?“, fragte Monika, nachdem alle ihr Abendessen beendet und auch die Nachspeisen bis zum letzten Löffel gegessen waren, nur um die Antwort gleich selbst zu geben:

„Ich möchte noch einen Abendspaziergang im Sonnenuntergang machen. Mit der ganzen Familie!“

„Ach, Ma“, sagte Florian und seufzte theatralisch. „Muss das sein?“

„Ich finde das eine tolle Idee! Ich freue mich schon so aufs Meer!“, sagte Sophie.

„Na komm“, sagte Holger zu Florian und klopfte ihm auf die Schulter. „Das schaffst du.“ Florian verdrehte die Augen und stemmte sich aus seinem Stuhl als wäre er ein Pflegebedürftiger, der nur noch mit seinem Rollator mobil ist.

„Schaut, da ist eine Eidechse“, rief Sophie begeistert.

„Wo?“, fragte Holger und blickte um sich.

„Na da, unter dem Plastikstuhl.“

„Ja, jetzt seh ich sie. Die ist ganz schön groß.“

„Herrlich, der feine Sand, die Wellen, das Rauschen des Meeres“, sagte Monika.

„Wenn wir schon gehen, will ich wenigstens im Wasser gehen“, sagte Florian und zog schon Schuhe und Socken aus. Der Rest der Familie tat es ihm gleich. Schritt für Schritt hinterließen sie ihre Spuren im feuchten Sand, die spätestens mit der übernächsten Welle schon wieder zu bloßer Erinnerung im Gedächtnis des Planeten wurden. Allerdings verschwand nicht alles, was Menschen erzeugten, so schnell wie Fußspuren im Sand.

„Wow, seht euch diesen riesigen Schwarm Möwen an“, sagte Holger und zeigte nach oben auf eine Wolke aus Vögeln, die über ihnen kreiste wie eine Kunstflugstaffel beim großen Finale. Als sie alle nach oben blickten und das kunstvolle Fliegen der Vögel vor dem sich ins Violett verschiebenden Himmel betrachteten, stieß Monika mit den Zehen ihres rechten Fußes an etwas Hartes, das außen fransig flauschig war. Sie blickte nach unten und sagte unwillkürlich:

„Oh mein Gott!“

„Was ist?“, fragten Holger und Florian gleichzeitig und schauten sie fragend an, doch Monika brachte kein Wort hervor.

Sophie schrie laut und schrill auf, als hätte man ihr ein Messer in den Bauch gerammt. Sie drehte sich um, drückte ihr Gesicht an Monikas Brust und umklammerte ihre Mutter so fest sie konnte. Nun sah die ganze Familie, was bei Monika und Sophie einen solchen Stich versetzt hatte. Vor ihnen lag ein toter Albatros, der Bauch aufgeplatzt wie eine reife Melone, die auf den Steinboden fallen gelassen wurde. Allerdings waren keine Organe und Gedärme im offenen Tierkörper zu sehen, sondern Plastikteile in allen Farben, die die Kunststoffindustrie zu bieten hat. Einige waren sogar noch deutlich zu erkennen. Ein neongrünes Feuerzeug, ein roter Schraubenziehergriff und der orangefarbene Deckel einer Getränkeflasche. Kleinere Plastikteilchen leuchteten fröhlich wie Konfetti bei einer Fastnachtsfeier drum herum. Die ewig währende Heiterkeit der Plastikwelt. So praktisch, so langlebig, so beständig.

Quelle: WWF: Das kann kein Meer mehr schlucken

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